Die jüngste Umfrage des Israel Democracy Institute zeigt ein besorgniserregendes Bild der israelischen Gesellschaft: Ein Jahr nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ist das Land tief gespalten, und die Solidarität, die unmittelbar nach dem Angriff zu spüren war, ist deutlich geschwunden. Israel führt derzeit einen Krieg an mehreren Fronten – gegen die Hamas im Gazastreifen, die Bedrohung und die ständigen Raketenangriffe der Hisbollah im Norden, sowie gegen die Huthis und andere Terrorgruppen, die das Land in einen andauernden Ausnahmezustand versetzen. Diese multi frontale Bedrohungslage belastet die Gesellschaft stark, und die Herausforderungen scheinen mit jedem Tag größer zu werden. Während ich hier in Deutschland sitze, schaue ich mit Sorge auf die Entwicklungen in Israel – ein Land, das mir besonders am Herzen liegt. Was bedeutet diese zunehmende Spaltung, und wie könnte sie möglicherweise überwunden werden? In einer solchen Situation sind gut gemeinte Ratschläge vielleicht nicht angebracht und doch möchte ich im Folgenden meine Gedanken dazu mit euch teilen.
Wo steht Israel heute?
Direkt nach den schrecklichen Ereignissen im letzten Jahr schien die israelische Gesellschaft enger zusammenzurücken. Doch die Zahlen der jüngsten Umfrage offenbaren eine andere Realität: Nur noch 26 % der Befragten bewerten das Maß an gesellschaftlicher Solidarität als hoch, während 44 % es als niedrig einstufen. Das ist ein dramatischer Rückgang im Vergleich zu den 54 %, die im Dezember 2023 noch eine starke Verbundenheit gespürt haben. Die Kluft zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft – politisch, religiös und ethnisch – ist größer geworden.
Die Frage, ob der Krieg in Gaza fortgesetzt werden soll, zeigt die deutliche Spaltung der israelischen Gesellschaft: 53 % der Israelis möchten, dass der Krieg endet, während 36 % dagegen sind. Die arabischen Israelis sind mehrheitlich für ein Ende des Konflikts, während die jüdischen Israelis gespalten sind – 45 % wollen ein Ende, 43 % möchten, dass der Krieg weitergeht. Besonders auffällig ist die politische Dimension: 61 % der rechten Wähler befürworten die Fortsetzung des Krieges, während 83 % der Linken und 61 % der Zentristen für ein Ende sind. Diese Unterschiede zeigen, wie sehr die politischen Überzeugungen die Sichtweise auf den Konflikt beeinflussen.
Wenn es um die Frage geht, was das Hauptziel des Krieges sein sollte, steht die Rückkehr der 101 Geiseln für eine klare Mehrheit von 62 % an erster Stelle, während nur 29 % die Zerschlagung der Hamas als oberstes Ziel ansehen. Diese Zahlen verdeutlichen eine wachsende Erschöpfung und das Bedürfnis, den menschlichen Preis dieses Konflikts zu verringern. Die arabischen Israelis (77 %), linke Juden (86 %) und Zentristen (78 %) favorisieren überwiegend die Rückkehr der Geiseln, während die rechte Wählerschaft gespalten ist (44 % für die Rückkehr der Geiseln, 44 % für die Zerschlagung der Hamas).
Ein weiteres großes Thema ist die Frage, wer nach dem Krieg die Kontrolle über den Gazastreifen haben soll. Die Meinungen sind gespalten: 37 % der Befragten sprechen sich für eine multinationale Streitkraft aus, 34 % wollen, dass Israel die Kontrolle übernimmt, und nur 11,5 % bevorzugen die palästinensische Autonomiebehörde. Besonders auffällig ist, dass 56 % der rechten jüdischen Wähler möchten, dass Israel die Kontrolle behält, während die meisten Zentristen (57 %) eine multinationale Lösung bevorzugen. Bei den linken Wählern (43 %) ist eine multinationale Streitkraft ebenfalls am beliebtesten, gefolgt von der palästinensischen Autonomiebehörde (27 %).
Wie kann Israel die Spaltung überwinden?
Die Situation in Israel macht deutlich, dass die Gesellschaft wie nie zuvor gespalten ist. Doch es gibt auch Positives, denn in vielen Punkten haben die Menschen ähnliche Wünsche und Hoffnungen – wie etwa die sichere Rückkehr der Geiseln. Es ist notwendig, diese Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu rücken und gemeinsam Lösungen zu finden, um die Einheit des Landes wiederherzustellen.
- Fokus auf Gemeinsame Ziele legen
Die Rückkehr der Geiseln ist ein Anliegen, das viele vereint – 62 % der Befragten halten es für das oberste Kriegsziel. Diese gemeinsame Basis sollte genutzt werden, um den Zusammenhalt zu stärken und das Vertrauen in die gemeinsame Zukunft wiederherzustellen. Es ist wichtig, den Fokus auf das zu legen, was die Menschen verbindet, und diese Ziele in den Mittelpunkt der politischen Kommunikation zu stellen. - Dialogplattformen Schaffen
Um die tiefen Spaltungen zu überwinden, brauchen wir Räume für den Dialog. Plattformen, die Bürgerinnen und Bürger verschiedener politischer und ethnischer Hintergründe zusammenbringen, können helfen, Missverständnisse abzubauen und Vorurteile zu überwinden. Ob durch lokale Treffen, interkulturelle Projekte oder Online-Diskussionsforen – der Austausch ist entscheidend, um einander wieder näher zu kommen. - Politische Führung in die Verantwortung nehmen
Die Umfrage zeigt auch, dass viele Israelis unzufrieden mit der politischen Führung sind. Premierminister Netanyahu erhielt in der Umfrage eine durchschnittliche Bewertung von 2,17 auf einer Skala von 1 (sehr schlecht) bis 5 (ausgezeichnet), während andere politische Persönlichkeiten ähnlich niedrige Bewertungen erhielten. Die israelische Führung muss die Zeichen der Zeit erkennen und beginnen, über die politischen Lager hinweg zu handeln. Es braucht Politiker, die bereit sind, Kompromisse ein zu gehen und Entscheidungen zu treffen, die der gesamten Nation dienen – nicht nur ihren Wählergruppen. - Empathie und Verständigung Fördern
Die Umfrage zeigt, dass viele arabische Israelis glauben, dass Proteste zur Geiselrückkehr beitragen könnten (68 %). Dieses Bedürfnis nach Dialog und Empathie sollte stärker berücksichtigt werden. Wir brauchen Initiativen, die auf gegenseitigem Verständnis basieren und die verschiedenen Perspektiven innerhalb Israels anerkennen. Bildungsprogramme könnten helfen, Empathie zu fördern und das Verständnis für die Herausforderungen der verschiedenen Gemeinschaften zu verbessern. - Einbindung aller Gemeinschaften in Entscheidungsprozesse
Besonders arabische Israelis fühlen sich oft ausgeschlossen. Die Regierung sollte sicherstellen, dass die Interessen aller Gemeinschaften berücksichtigt werden. Ein interkulturelles Beratungsgremium könnte sicherstellen, dass die verschiedenen Gruppen gehört werden, und könnte als Brücke zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft dienen. - Soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit
Viele der Spannungen in Israel haben ihre Wurzeln in wirtschaftlicher Ungleichheit. 76 % der arabischen Israelis sowie 74 % der linken Juden sprechen sich für Neuwahlen im Jahr 2024 aus, was ein Zeichen dafür ist, dass die derzeitige Regierung das Vertrauen vieler Bürger verloren hat. Es ist an der Zeit, wirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen, die sicherstellen, dass alle Gemeinschaften gleiche Chancen haben und dass niemand zurückgelassen wird. Dies könnte helfen, das Gefühl der Entfremdung zu verringern und die Solidarität wiederherzustellen.
Die Rolle der jüdischen Diaspora: Ein Beitrag zur Einheit Israels
Auch die jüdische Diaspora, insbesondere in den USA, Kanada und Europa, kann eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung der Einheit in Israel spielen. Durch die Förderung von Dialog und Verständigung könnten Juden in der Diaspora Projekte und Organisationen unterstützen, die den interkulturellen Austausch innerhalb Israels fördern, um Brücken zwischen den verschiedenen Gemeinschaften zu bauen. Gleichzeitig ist es entscheidend, in internationalen Medien differenziert über die Situation in Israel zu berichten, um ein ausgewogenes Bild zu vermitteln und internationale Unterstützung zu sichern. Bildung ist ein Schlüsselinstrument, und Diaspora-Juden könnten durch Stipendien und Programme, die den interkulturellen Dialog und die Konfliktforschung fördern, zur Versöhnung beitragen. Zudem können die Netzwerke und Ressourcen der Diaspora genutzt werden, um NGOs in Israel zu unterstützen, die sich für soziale Gerechtigkeit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen. Austauschprogramme zwischen Israel und der Diaspora sowie kulturelle Projekte, die das gemeinsame jüdische Erbe betonen, könnten helfen, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Auch die Förderung einer starken Zivilgesellschaft, die sich für die Rechte aller Bürger Israels einsetzt, ist essentiell, um die Spaltung zu überwinden. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Diaspora sollten zudem offene Dialoge geführt werden, die unterschiedliche Perspektiven einbeziehen, um ein besseres Verständnis für die Situation in Israel zu entwickeln. Politische Einflussnahme in den Heimatländern kann ebenfalls eine Rolle spielen, um eine wohlwollende Politik gegenüber Israel zu fördern. Schließlich ist die Solidarität und die moralische Unterstützung der Diaspora von großer Bedeutung, denn das Gefühl, nicht allein zu sein, stärkt den inneren Zusammenhalt in Israel.
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Die Situation in Israel zeigt, wie fragil die gesellschaftliche Einheit sein kann, besonders in Zeiten der Krise. Die zunehmende Spaltung ist eine Herausforderung, der sich das Land stellen muss, wenn es langfristig Frieden und Stabilität erreichen möchte. Doch ich bin überzeugt, dass es möglich ist, diese Spaltung zu überwinden. Es braucht den Willen jedes Einzelnen, sich auf das zu konzentrieren, was uns verbindet, und den Mut, über die eigenen Überzeugungen hinauszuschauen.
Hier in Deutschland, fernab der direkten Konflikte, spüre ich die Verantwortung, den Dialog zu unterstützen und auf eine bessere Zukunft für Israel zu hoffen. Israel ist mehr als die aktuelle politische Führung, mehr als die Konflikte, die das Land prägen. Es ist die Heimat vieler Menschen, die eine bessere Zukunft wollen – für sich selbst, für ihre Kinder und für die gesamte Region. Wenn wir den Mut haben, Brücken zu bauen und aufeinander zuzugehen, können wir die Hoffnung auf eine vereinte israelische Gesellschaft wiederherstellen.
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[…] braucht eine Regierung, die die Spaltung überwindet, die Brücken baut statt Mauern zu errichten, die den Dialog sucht statt die […]