
Doppelmoral – Warum wir uns selbst im Weg stehen
Ich habe im Laufe meines Lebens viele Gespräche geführt – mit Freunden, Kollegen, Bekannten. Oft ging es dabei um die großen Fragen: Was läuft falsch in der Welt? Warum gibt es so viel Ungerechtigkeit? Warum handeln Menschen so egoistisch, so lieblos, so respektlos? Und meistens sind wir uns einig: Das kann so nicht weitergehen. Die Welt braucht mehr Ehrlichkeit, mehr Mitgefühl, mehr Verantwortungsbewusstsein. Doch je öfter ich solche Gespräche führe, desto häufiger beobachte ich etwas, das mich nachdenklich macht: Gerade Menschen, die hohe moralische Ansprüche haben, verhalten sich im Alltag oft anders, als sie es öffentlich fordern.
Ich kenne Menschen, die sehr entschieden gegen Betrug und Korruption sprechen – und gleichzeitig stolz erzählen, wie sie das Finanzamt ausgetrickst haben. Andere kritisieren gnadenlos die Rücksichtslosigkeit in der Geschäftswelt – und rechtfertigen gleichzeitig ihre eigenen fragwürdigen Entscheidungen mit dem Satz: „So läuft das Geschäft eben.“ Manche predigen Respekt und Liebe, üben aber im privaten Umfeld subtilen Druck aus oder lassen die Bedürfnisse ihrer engsten Angehörigen unbeachtet. Ich höre dann große Worte – aber sehe Handlungen, die diesen Worten nicht standhalten.
Ehrlich sein – vor allem mit sich selbst
Ich glaube nicht, dass das alles bewusste Heuchelei ist. Im Gegenteil: Viele meinen es ernst. Sie glauben an ihre Werte, sehnen sich nach einem moralischen Kompass, wollen etwas verändern. Und trotzdem gibt es diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Warum?
Vielleicht liegt es daran, dass es einfacher ist, auf andere zu schauen. Es ist leichter, den Fehler beim Politiker, beim Konzernchef oder beim Nachbarn zu suchen, als sich selbst kritisch zu hinterfragen. Vielleicht fühlen sich Menschen überfordert von ihren eigenen Maßstäben. Vielleicht tragen sie so viele Ideale in sich, dass sie irgendwann selbst nicht mehr mithalten können – und dann lieber einen Schutzmechanismus aktivieren: Reden statt Handeln.
Ich nehme mich da nicht aus. Auch ich kenne diese Kluft. Ich habe schon über Achtsamkeit gesprochen, während ich selbst in Gedanken ganz woanders war. Ich habe über Respekt geschrieben – und dann gemerkt, dass ich jemandem zu schnell über den Mund gefahren bin. Ich bin nicht perfekt. Niemand ist das. Aber ich habe gelernt, hinzuschauen. Nicht um mich zu verurteilen, sondern um zu wachsen.
Es geht nicht darum, alles richtig zu machen. Es geht darum, ehrlich zu sein. Mit sich selbst. Mit den eigenen Schwächen, den eigenen Widersprüchen, den kleinen Fluchten im Alltag. Denn erst wenn ich mir selbst eingestehe, wo ich anders handle, als ich rede – erst dann kann Veränderung beginnen.
Und vielleicht braucht die Welt heute nicht noch mehr kluge Reden. Vielleicht braucht sie mehr Menschen, die leise, aber echt leben, was sie glauben. Menschen, die zugeben, wenn sie scheitern – und trotzdem weitergehen. Menschen, die bereit sind, ihre Ideale nicht nur zu verkünden, sondern in kleinen, echten Schritten zu verwirklichen.
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