Die deutsche Traditionsmarke Bahlsen, bekannt für ihre ikonischen Kekse, hat sich nach Jahrzehnten der Verschwiegenheit für die Rolle des Unternehmens während der Zeit des Nationalsozialismus entschuldigt. Ein neuer Bericht hat schmerzliche Wahrheiten ans Licht gebracht: Bahlsen beschäftigte während des Zweiten Weltkriegs fast 800 Zwangsarbeiter, viele aus Polen und der Ukraine. Diese Zahl übertrifft die bisherigen Schätzungen bei weitem und wirft ein neues Licht auf die Verstrickungen des Unternehmens in das verbrecherische System des Dritten Reiches.
Die Ursprünge von Bahlsen
Bahlsen wurde 1889 von Hermann Bahlsen in Hannover gegründet. Mit seiner Einführung des „Leibniz-Kekses“, benannt nach dem berühmten deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, revolutionierte das Unternehmen die Keksproduktion. Die industrielle Herstellung von Backwaren ermöglichte es Bahlsen, schnell zu einem der führenden Keksproduzenten Deutschlands aufzusteigen. Bahlsen entwickelte früh innovative Produktionsmethoden, darunter die maschinelle Verpackung und die standardisierte Qualitätssicherung, und wurde zu einem Symbol für deutsche Ingenieurskunst und Unternehmergeist.
Zwangsarbeit bei Bahlsen während des Nationalsozialismus
Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren wurde das deutsche Wirtschaftssystem zunehmend militarisiert. Unternehmen, die zuvor vom zivilen Wohlstand profitiert hatten, sahen sich nun mit den Forderungen des NS-Staates konfrontiert. Bahlsen war keine Ausnahme. Zwischen 1940 und 1945 wurden fast 800 Menschen, viele von ihnen Frauen aus Polen und der Ukraine, gezwungen, in den Fabriken des Unternehmens zu arbeiten. Diese Arbeiter stellten unter entsetzlichen Bedingungen Rationen für die deutsche Wehrmacht her.
Zwangsarbeit war in Nazi-Deutschland ein zentraler Bestandteil der Kriegswirtschaft. Millionen von Menschen aus den besetzten Gebieten Europas wurden verschleppt und zur Arbeit in deutschen Fabriken, Bergwerken und auf Bauernhöfen gezwungen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen waren extrem hart: Sie arbeiteten unter strenger Bewachung, erhielten oft unzureichende Nahrung und waren systematischer Misshandlung ausgesetzt. Krankheiten und Erschöpfung führten zu einer hohen Sterblichkeitsrate unter den Zwangsarbeitern.
In den 1990er Jahren kam es in Deutschland zu einer breiten Debatte über die Verantwortung der deutschen Industrie während der NS-Zeit. Es wurde deutlich, dass zahlreiche Unternehmen von der Zwangsarbeit profitiert hatten, ohne nach dem Krieg Verantwortung zu übernehmen oder Entschädigungen zu zahlen. Bahlsen blieb lange Zeit in dieser Diskussion weitgehend unberührt, bis Verena Bahlsen, die Erbin des Unternehmens, im Jahr 2019 mit unbedachten Äußerungen für Aufsehen sorgte.
Die Kontroverse um Verena Bahlsen
2019 geriet Verena Bahlsen, die Urenkelin des Firmengründers, ins Rampenlicht, als sie behauptete, die Firma habe Zwangsarbeiter „genauso gut wie Deutsche bezahlt und gut behandelt“. Diese Aussagen lösten in Deutschland und international Empörung aus. Viele empfanden Bahlsens Äußerungen als unsensibel und ignorant gegenüber dem Leid der Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs.
Die Kritik führte schließlich dazu, dass die Bahlsen-Familie eine umfassende historische Untersuchung in Auftrag gab, um die tatsächliche Rolle des Unternehmens während des Krieges zu ermitteln. Die Ergebnisse dieser Studie, die nun im August 2024 veröffentlicht wurden, zeichnen ein düsteres Bild: Anstatt der bisher angenommenen 200 bis 250 Zwangsarbeiter arbeiteten fast 800 Menschen unter Zwang für Bahlsen. Die Zwangsarbeit erstreckte sich über einen längeren Zeitraum als bisher angenommen, nämlich von 1940 bis 1945.
Bahlsens Reaktion und die Aufarbeitung
Die Bahlsen-Familie zeigte sich in ihrer Erklärung zutiefst betroffen von den neuen Erkenntnissen. „Diese Ergebnisse sind für uns schmerzhaft und unangenehm“, hieß es in einer Erklärung. „Es tut uns leid, dass wir uns dieser schwierigen Wahrheit nicht schon früher gestellt haben.“ Die Familie räumte ein, dass ihre Vorfahren das NS-System ausgenutzt und von den Verbrechen des Regimes profitiert hätten. „Unser Verhalten in dieser Zeit ist unverzeihlich“, erklärten die Erben des Unternehmens.
Verena Bahlsen, die nach ihrer umstrittenen Aussage 2019 heftig in die Kritik geraten war, entschuldigte sich damals schnell für ihre „gedankenlosen“ Bemerkungen. 2022 verließ sie das Unternehmen. Ihr Rücktritt markierte einen Wendepunkt in der Firmengeschichte, in der die Aufarbeitung der Vergangenheit fortan einen zentralen Platz einnahm.
Die Rolle der deutschen Wirtschaft im Dritten Reich
Bahlsen ist kein Einzelfall. Während der NS-Zeit profitierten viele deutsche Unternehmen von Zwangsarbeit und den verbrecherischen Praktiken des Regimes. Zu den prominentesten Beispielen gehören Konzerne wie IG Farben, Krupp und Volkswagen, die Tausende von Zwangsarbeitern einsetzten, um ihre Produktion aufrechtzuerhalten und die Kriegsanstrengungen der Wehrmacht zu unterstützen.
Nach dem Krieg waren viele dieser Unternehmen nur zögerlich bereit, ihre Verstrickungen in die NS-Verbrechen aufzuarbeiten. Erst in den späten 1990er Jahren kam es zu umfassenderen Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter, nachdem internationaler Druck und Klagen gegen deutsche Unternehmen zunahmen. 2000 wurde die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet, die von der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft gemeinsam getragen wurde, um Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter zu leisten.
Der Weg zur Versöhnung
Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist für Unternehmen wie Bahlsen nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch ein wichtiger Schritt zur Versöhnung mit den Opfern und ihren Nachkommen. Der jüngste Bericht über Bahlsens Verstrickung in das NS-System ist ein Teil dieses Prozesses. Die Anerkennung des Unrechts und die klare Distanzierung von den Verbrechen der Vergangenheit sind zentrale Elemente, um Vertrauen in die Gegenwart und Zukunft des Unternehmens wiederherzustellen.
Bahlsen, einst ein Symbol für deutschen Unternehmergeist und technische Innovation, sieht sich nun mit der Aufgabe konfrontiert, diese dunkle Seite seiner Geschichte aufzuarbeiten und Verantwortung zu übernehmen. Die Offenlegung der Wahrheit und die Entschuldigung der Familie sind wichtige Schritte in diesem Prozess. Doch die Herausforderung bleibt, wie das Unternehmen in den kommenden Jahren nicht nur seine Vergangenheit bewältigen, sondern auch die richtigen Lehren daraus ziehen wird.
In der heutigen Zeit, in der die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen immer stärker betont wird, steht Bahlsen stellvertretend für viele deutsche Firmen, die ihre Vergangenheit aufarbeiten müssen. Nur durch die Auseinandersetzung mit dieser schwierigen Geschichte kann eine ehrliche und nachhaltige Versöhnung gelingen.
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