Familiengeschichte

Episode 17 – Abgrund zur Hölle – Ein Albtraum in Limburg

Die Tür vibrierte erneut unter einem wuchtigen Tritt. Das laute Grölen der russischen Soldaten hallte durch das Haus wie ein unheilvolles Echo aus der Hölle. Schimon hielt den Atem an, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Jede Faser seines Körpers war angespannt. In dem dunklen Raum, erleuchtet nur vom schwachen Glimmen der Holzofenflamme, waren nun alle hellwach.

Herr Lontke war als Erster auf den Beinen. Entschlossen, aber mit zitternden Händen stellte er sich vor die Tür, als könne sein Körper allein diese Barrikade gegen das drohende Unheil aufrechterhalten. Ruth und Erika saßen aufrecht im Stroh, ihre Gesichter kalkweiß, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Sie wagten kaum zu blinzeln. Günter, der kleine Junge, Schimons Vater, begann leise zu schluchzen. Es war ein kaum hörbares Wimmern, das sich wie ein Schmerz durch die Stille schnitt. Valli klammerte sich verzweifelt an ihre Mutter Anna, drückte das Gesicht gegen deren Schulter, während Anna ihr beruhigend über den Rücken strich – mehr mechanisch als tröstend, denn auch sie war wie gelähmt.

Dann, ohne Vorwarnung, sprang die Tür auf. Mit einem Krachen flog sie gegen die Wand. Zwei russische Soldaten torkelten herein, offenbar sturzbetrunken, lallend, lachend, schreiend. Ihre Bewegungen waren unkontrolliert, aggressiv. Der eine hatte eine halb geleerte Flasche Schnaps in der Hand, der andere die Mütze schief im Gesicht. Sie warfen einen Blick durch den Raum – und fixierten sofort die jungen Frauen.

„Mädschjen!“, grölte einer von ihnen, und beide bewegten sich taumelnd, aber zielstrebig auf Ruth und Erika zu.

Was dann geschah, war ein Chaos aus Bewegung, Angst und verzweifeltem Widerstand. Herr Lontke versuchte, sich den Soldaten in den Weg zu stellen. Er schrie etwas auf Deutsch, doch es wurde übertönt vom Lachen der Männer. Einer schubste ihn grob beiseite, sodass er rücklings in das Stroh fiel. Valli schrie auf. Anna packte sie und zog sie hinter sich.

Die russischen Soldaten griffen nach Ruths Arm, zerrten an ihrem Kleid. Erika trat einem der Männer gegen das Schienbein, doch es schien ihn nicht zu beeindrucken. Die Lage drohte zu kippen.

Da trat Emilie vor.

Mit geradem Rücken, dem Gesicht hart wie Stein, stellte sie sich zwischen die Soldaten und die Mädchen. Ihre Haltung war ruhig, aber unnachgiebig. „Ihr bekommt sie nicht“, sagte sie mit kalter Stimme. Kein Zittern, kein Flehen, nur dieser eine Satz. Vielleicht verstanden die Soldaten den Inhalt nicht – aber sie verstanden die Haltung. Für einen Moment hielten sie inne. Einer lachte, der andere starrte sie an. Ihre betrunkene Entschlossenheit verpuffte an der Wand aus Mut, die diese kleine, aufrechte Frau bildete.

Sie lallten noch ein paar unverständliche Worte, dann taumelten sie zurück, stolperten durch die Tür, lachten und grölten weiter, als sei nichts geschehen. Die Tür blieb offen stehen.

Stille.

Dann begannen die Kinder zu weinen. Anna umarmte Valli und Günter gleichzeitig. Ruth schluchzte. Lontke rappelte sich auf und trat sofort zur Tür, die er so gut es ging wieder einhängte und mit einem alten Besenstiel notdürftig verkeilte.

Schimon stand am Rand des Geschehens, innerlich zerrissen. Niemand sagte es laut, aber alle wussten: Die Soldaten könnten jederzeit zurückkommen. Und beim nächsten Mal würde vielleicht kein Mut, keine Worte, keine Entschlossenheit helfen.

Emilie erhob sich wieder. Wortlos ging sie durch das dunkle Haus, jeder Schritt bedacht. Schimon folgte ihr. Sie prüfte Fenster, blickte in Kammern und Ecken. Schließlich stieg sie leise die knarrenden Stufen zum Dachboden hinauf. Auch Schimon stieg vorsichtig hinterher.

Oben war es kalt. Der Wind pfiff durch eine offene Lücke im Gebälk. Beim Kamin kauerte sich Emilie nieder. Sie verharrte, als wolle sie ausprobieren, ob man sie dort sehen konnte. Ihre Silhouette verschmolz beinahe mit dem Mauerwerk. Nach einer Weile richtete sie sich auf, ging wieder hinunter. Schimon folgte ihr schweigend.

Unten begann Lontke, mit Emilie und Anna zu besprechen, was im Notfall zu tun sei. Wer sich wo verstecken sollte, wie sie den Kindern beibringen könnten, still zu bleiben, wenn es wieder klopfte oder schlimmer noch – wenn die Tür wieder aufflog.

Für Schimon war das fast zu viel. In eine Zeit zu reisen, in der man nicht gelebt hatte, war das eine. Aber Zeuge zu werden solcher Hilflosigkeit, solcher Angst – das ging tiefer als er es je erwartet hatte. Er sehnte sich nach Hause. Nach Frieden. Nach Sicherheit.

Und dann – dieses Geräusch.

Wieder dieses laute, grollende Vibrieren. Wie das Anlaufen einer Kettensäge. Lichtblitze durchzuckten das Zimmer. Ein starker Luftzug kam auf. Alles begann zu flimmern. Schimon fühlte sich, als würde er nach hinten gezogen. Der Wind wurde zum Strudel, zum Wirbel. Er verlor den Boden unter den Füßen.

Er stürzte.

Und landete.

In seinem Stuhl. In seinem Zimmer. Es war dunkel. Der Bildschirm seines Computers war schwarz. Auf dem Schreibtisch vor ihm: die Kaffeetasse. Das Kästchen. Er zitterte, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Reflexartig griff er zur Tasse – der Kaffee war noch warm. Er nahm einen Schluck, stand auf, ging hinaus auf die Terrasse.

Die kühle Nachtluft brachte kaum Linderung. Er zündete sich eine Zigarette an. Zog tief. Langsam begannen seine Gedanken sich zu ordnen.

Er dachte an das, was er erlebt hatte. An die Angst in den Augen der Mädchen. An seinen Vater – Günter – gerade mal sieben Jahre alt. Was für ein Schicksal. Was für ein Erbe.

Schimon dachte an seine eigene Kindheit. Daran, wie er manche Entscheidungen seines Vaters nie verstanden hatte. Besonders das Spielzeugwaffenverbot. Kein Cowboy und Indianer. Kein Räuber und Gendarm mit Plastikpistolen. Jetzt verstand er. Und sein Herz zog sich zusammen.

Langsam wurde ihm klar, was für ein Werkzeug er da in Händen hielt. Das Kästchen. Diese Reisen – sie folgten seinen Gedanken. Es war nicht willkürlich. Es war gelenkt.

Er ging zurück ins Zimmer, fröstelte. Setzte sich wieder auf den Bürostuhl, lehnte sich zurück. Der Gedanke an Oswald drängte sich auf. Der Großvater in Frankreich. Fahrer bei der Wehrmacht.

Ein Plan begann sich zu formen. Schimon brauchte eine Zeittafel. Wenn er bei jeder Reise das Datum herausfand, könnte er die Ereignisse ordnen. Einen roten Faden finden. Und vielleicht – vielleicht eines Tages ein Buch schreiben.

Der Gedanke beruhigte ihn. Er sah auf die Uhr. Zeit, sich zu richten. Er wollte nicht, dass Dany Verdacht schöpfte. Langsam stand er auf und ging ins Badezimmer.

Fortsetzung folgt…

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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