Familiengeschichte

Episode 15: Ein Junge am Ende seiner Kräfte – Hoffnung auf der Landstraße nach Limburg

Der russische Offizier hob die Hand – ein schlichtes Zeichen, doch es wirkte wie ein Befehl an die Welt, endlich wieder zu atmen. Herr Lontke verstand, richtete sich langsam auf. Kein Schuss fiel. Kein Befehl ertönte. Die Gewehre sanken, einer nach dem anderen. Die Männer in Tarnjacken blieben wachsam, aber sie schossen nicht.

Schimon beobachtete, wie die Spannung in Emilies Schultern langsam nachließ. Die Soldaten hatten das Erdloch durchsucht – gründlich, mit kalten Blicken, stählernen Händen. Aber sie hatten nichts gefunden. Nicht die Uniform, die der kleine Günter im Wald entdeckt und heimlich unter einen Balken geschoben hatte. Wäre sie entdeckt worden… Schimon wagte den Gedanken nicht zu Ende zu führen. Sie wären nicht als Zivilisten gesehen worden, sondern als Partisanen. Und das hätte ihr Todesurteil bedeutet.

Der Offizier trat vor, sprach leise mit Herrn Lontke. Er sprach akzentfreies Deutsch, nüchtern, knapp. Sie sollten sich in Limburg melden, dort, in der Kommandantur der Roten Armee. Man werde ihnen eine Unterkunft zuweisen. Frauen und Kinder – sie gehörten nicht an diesen Ort mitten im Wald.

Keine Widerrede. Kein Aufschub. Sie mussten jetzt gehen.

Der Abschied vom Wald geschah wortlos. Acht Wochen lang war er ihr Zufluchtsort gewesen. Acht Wochen Dunkelheit, Kälte, Angst – und doch auch ein Ort des Überlebens. Nun standen sie auf, einer nach dem anderen, mühsam, gebeugt von Hunger und Müdigkeit. Ihre Gesichter eingefallen, die Kleider zerschlissen. Emilie trug noch immer den gleichen Rock, das gleiche zerknitterte Hemd wie am ersten Tag. Ihre Kinder wirkten wie Schatten ihrer selbst.

Und Günter…

Schimon schluckte. Der Junge sah erbärmlich aus. Dünne Beine in Kniestrümpfen, zu groß geworden für seine kurzen Hosen. Die Jacke hing wie ein Sack an seinem Körper. Sein Gesicht war fahl, der Ausschlag hatte sich verschlimmert, und die fiebrigen Augen wirkten wie aus einer anderen Welt. Acht Wochen in denselben Kleidern, acht Wochen ohne richtige Nahrung – wie sollte er den Weg schaffen?

Sie gingen los.

Lontke vorneweg, langsam, in bedächtigem Schritt. Hinter ihm Emilie mit Ruth, Erika, Hans – und Günter. Immer wieder blieb der Junge stehen, stützte sich an Baumstämmen ab, zog sich mühsam weiter. Erika nahm ihn bei der Hand, trug ihn manchmal ein Stück. Schimon folgte ihnen lautlos, seine Schritte versanken im nassen Schnee. Es war ein Bild des Elends, das sich ihm bot – und eines des Überlebenswillens.

Immer wieder mussten sie rasten. Der Weg zog sich, jeder Meter wurde zur Prüfung. Als sie endlich aus dem Wald traten, lag die Landstraße vor ihnen wie ein Versprechen – oder eine Drohung. In der Ferne: Limburg. Blota, wie es heute heißt.

Am Ortsrand brach Günter zusammen. Sein kleiner Körper konnte nicht mehr. Schimon setzte sich neben ihn, beobachtete sein blasses Gesicht. Der Junge war kaum noch bei Bewusstsein.

Erika und Ruth begriffen sofort. Sie verschwanden in die verlassenen Häuser. Minuten vergingen. Dann kamen sie zurück – mit Einweckgläsern. Eingemachtes Obst. Pflaumen. Kirschen. Sie öffneten ein Glas, ließen Günter vom Saft trinken. Seine Lippen bewegten sich kaum. Doch der Zucker wirkte. Langsam kam Leben zurück in seinen Blick.

Nach einer langen Pause zogen sie weiter. Die Dorfstraße lag ausgestorben vor ihnen. Fenster zerbrochen, Möbel auf den Höfen zerstreut, zerschlagen, verbrannt. Hier hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen, wie Krallen eines Raubtiers. Es roch nach Rauch und nassem Putz. In den Schatten bewegte sich kaum etwas. Nur Stille, Staub – und Zerstörung.

Dann, am Ende der Straße: ein Haus. Nicht größer als die anderen. Aber über dem Tor wehte eine rote Fahne.

Die russische Kommandantur.

Sie blieben stehen. Niemand sprach. Selbst Günter hob langsam den Kopf.

Was wird sie hier erwarten?

Fortsetzung folgt…

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert