Ein schrilles Klingeln durchbrach die morgendliche Stille. Schimon fuhr hoch, sein Herz hämmerte unruhig in seiner Brust. Der Wecker, der für gewöhnlich nur selten zum Einsatz kam, hatte ihn heute aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Normalerweise war er ein Frühaufsteher, jemand, der die Stille des frühen Morgens schätzte. Doch in der vergangenen Nacht hatte ihn eine seltsame Unruhe wachgehalten – ein unbestimmtes Gefühl, das tief in ihm zu lodern schien.
Die Müdigkeit lag schwer auf ihm, als er sich aus dem Bett schälte und in die Küche schlurfte. Das Summen der Kaffeemaschine begleitete ihn, während der Duft frisch gemahlener Bohnen den Raum erfüllte. Mit der dampfenden Tasse in der Hand ließ er sich am Esstisch nieder. Sein Blick wanderte zu den Fenstern, hinter denen die Welt allmählich erwachte. „Heute ist der Tag,“ dachte er, obwohl er sich selbst noch nicht sicher war, was genau er damit meinte.
Seine Tage folgten einer festen Routine. Zwei Mal in der Woche fuhr er als Fahrer für das Seniorenheim „Haus zum Fels“ – eine Einrichtung, die sein Großvater Oswald vor Jahrzehnten gegründet hatte. Der Rest der Woche gehörte seiner eigentlichen Leidenschaft: der Beratung von Unternehmen beim Aufbau moderner Aquaponik-Anlagen. Beide Tätigkeiten boten ihm Struktur, doch heute lastete ein anderer Gedanke schwer auf ihm – der Alukoffer.
Während er seinen Kaffee trank, schweiften seine Gedanken immer wieder zu dem unscheinbaren Gegenstand in seinem Zimmer ab. Der Koffer, der seit Jahren unbeachtet geblieben war, schien plötzlich eine fast magische Anziehungskraft auszustrahlen. Sein Vater hatte ihm vor einiger Zeit erzählt, dass all die Dinge, die Oswald in seinem Büro liegen hatte, in diesem Koffer verstaut worden waren – ein Archiv voller Erinnerungen, womöglich Geheimnisse, die niemand bisher zu entschlüsseln gewagt hatte.
Der Vormittag verging wie im Flug. Schimon absolvierte seine Runde mit dem Transporter, belud ihn in Eberstadt mit frischer Wäsche, fuhr die vertrauten Straßen entlang, lieferte die Wäsche aus und lud die Schmutzwäsche ein. Seine Arbeit verlief routiniert, doch seine Gedanken kehrten immer wieder zum Koffer zurück. Je mehr der Tag voranschritt, desto größer wurde seine Ungeduld.
Gegen 11:30 Uhr war Schimon mit seiner Wäschetour fertig. Meistens nutzte er die Gelegenheit, danach seine Eltern im Betreuten Wohnen in Schwabbach zu besuchen. Dort richtete er ihre Medikamente, erledigte Einkäufe oder begleitete sie bei Arztbesuchen. Diese Besuche waren ihm wichtig, auch wenn sie ihn manchmal herausforderten.
Gegen 15 Uhr kehrte er nach Hause zurück. Die Räume lagen in ungewohnter Stille. Seine Frau Dany verbrachte montags die Nachmittage bei ihrer Enkelin Rosalie. Sie unterstützte ihre Kinder oft, indem sie sich um die Enkel kümmerte – insgesamt fünf an der Zahl. Die lebhafte „Rasselbande“ bereitete ihnen beiden große Freude, und Schimon war stolz auf Danys unermüdliches Engagement. Heute war es still in der Wohnung, und er hatte Zeit für sich. Er zog die Arbeitskleidung aus, schlüpfte in einen bequemen Trainingsanzug und atmete tief durch. Es war Zeit.
Schimon ging in sein Zimmer. Der Koffer stand auf der Kommode, im weichen Licht des späten Nachmittags schien das Metall zu schimmern. Mit Bedacht näherte er sich ihm, als wäre der Koffer etwas Lebendiges. Seine Finger strichen über die glatte Oberfläche, und er spürte das Geheimnis der Vergangenheit in jeder Faser seines Körpers.
Langsam entriegelte er die Verschlüsse, die mit einem metallischen Klicken nachgaben. Der Deckel knarrte, als er ihn behutsam anhob. Ein leicht modriger Geruch stieg ihm entgegen, durchzogen von der herben Note von Zedernholz. Der Duft weckte in ihm eine eigentümliche Mischung aus Ehrfurcht und Neugier. „Der Geruch von Geschichte,“ murmelte er leise.
Sein Blick fiel auf die erste Schicht: zerfledderte Papiere, Lederumschläge und alte Schnellhefter, die auf eine chaotische Ordnung hinzudeuten schienen. Doch dann entdeckte er ein Foto, das obenauf lag. Er griff danach und betrachtete es genauer. Darauf abgebildet waren seine Großeltern, Emilie und Oswald, jung und voller Leben. Ihre Augen schienen ihn direkt anzublicken, voller Erwartungen – oder war es eine Botschaft, die sie ihm zu senden schienen? Schimon spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete.
Er wusste, dies war der Anfang einer Reise. Eine Reise in die Vergangenheit, die nicht nur die Geschichte seiner Familie erhellen würde, sondern auch seine eigene Identität. Fortsetzung folgt…
Beitrag teilen
[…] Zurück in seinem Zimmer stellte er den Koffer auf seine Commode vor dem Fenster. Da war er nun, ein stiller Zeuge einer vergangenen Zeit, voller Geheimnisse, die nur darauf warteten, gelüftet zu werden. Schimon spürte die Versuchung, ihn sofort zu öffnen, doch die Erschöpfung siegte. Morgen, dachte er, morgen Nachmittag, wenn er von der Arbeit zurück ist, dann wollte er sich dem Koffer widmen. Er wollte ihn nicht zwischen Tür und Angel öffnen, sondern sich Zeit nehmen und ungestört sein. Mit diesem Entschluss zog er seinen Schlafanzug an und löschte das Licht. Der Koffer verharrte schweigend in der Dunkelheit, wie ein Wächter vergessener Zeiten. Wilma, die kleine Hündin, drehte sich raschelnd in ihrem Körbchen, bevor sie sich wieder mit einem zufriedenen Seufzer zur Ruhe legte. Schimon schlief schnell ein, doch der Schlaf war unruhig. Er träumte von dem Koffer, er schien in dem Traum riesig zu sein, undurchdringlich. Eine Stimme flüsterte seinen Namen, „Schimon… öffne den Koffer… er wird dein Leben verändern…“ Die Stimme war vertraut, aber er konnte sie nicht zuordnen. Schweißgebadet wachte er auf. Vor ihm stand der Koffer, scheinbar harmlos im schwachen Licht des Mondes, das durch das Fenster fiel. „Öffne den Koffer…“ hallte die Stimme in seinem Kopf wider. Schimon starrte den Koffer an, sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er spürte den unwiderstehlichen Drang, ihn zu öffnen, doch die Müdigkeit war zu groß. „Morgen“, flüsterte er, „morgen werde ich ihn öffnen.“ Er schloss die Augen und versank wieder in einen unruhigen Schlaf. Fortsetzung folgt… […]