Wenn alte Bäume Wurzeln schlagen – Liebe mit Gepäck
In letzter Zeit sitze ich oft mit Freunden zusammen, höre mir ihre Geschichten an und komme ins Grübeln. In meinem Bekanntenkreis gibt es viele Menschen, die den Mut gefasst haben, in der zweiten Lebenshälfte noch einmal ganz neu zu beginnen. Sie sind Mitte 40 oder älter, haben Ehen hinter sich, Kinder großgezogen oder Karrierepfade beschritten, die sie tief geprägt haben. Sie suchen die Liebe, und wenn sie sie finden, beobachte ich etwas, das mich sehr beschäftigt. Es ist nicht mehr dieses spielerische Ineinanderfließen, das wir aus der Jugend kennen. Es ist oft ein Ringen, ein ehrliches, manchmal schmerzhaftes Abarbeiten aneinander. Da kam mir neulich ein Bild in den Sinn, das mich nicht mehr loslässt: Das Bild von einem Baum.
Wenn wir jung sind, sind wir wie zarte Setzlinge. Unser Stamm ist dünn und biegsam. Wenn wir uns verlieben, wachsen wir mit unserem Partner zusammen, wir winden uns umeinander, passen uns an das Licht und den Schatten des anderen an. Wir schauen durch die rosarote Brille, und diese naive Blindheit ist ein Geschenk der Natur, denn sie lässt uns über Unstimmigkeiten hinwegsehen, bis wir fest miteinander verwachsen sind. Doch wenn wir älter sind, ist das anders. Wir sind wie mächtige, alte Bäume. Unser Stamm ist dick geworden, die Rinde ist fest und vielleicht von manchem Sturm vernarbt. Wir lassen uns nicht mehr einfach in eine neue Richtung biegen, ohne zu brechen. Wir wissen genau, wer wir sind, was wir wollen und vor allem, was wir auf keinen Fall mehr dulden. Und genau hier liegt die große Herausforderung, vor der so viele Paare in meinem Umfeld stehen.
Das Puzzle, das nicht passen will
Ich sehe Paare, die sich aufrichtig lieben, und doch scheinen sie ständig aneinanderzugeraten. Sie versuchen, zwei fertige Lebensentwürfe übereinanderzulegen, wie zwei Puzzleteile, die eigentlich aus verschiedenen Schachteln stammen. Jeder bringt seinen riesigen Koffer an Erfahrungen mit – die sogenannte „Lebensgeschichte“. Darin sind nicht nur schöne Erinnerungen, sondern auch alte Verletzungen, festgefahrene Gewohnheiten und Verpflichtungen wie Kinder oder pflegebedürftige Eltern. Während man früher über den Weg gestritten hat, den man gemeinsam gehen will, streitet man heute oft über Grenzen und Autonomie. Warum tun wir uns das an? Warum versuchen wir immer wieder, dieses Puzzle zusammenzufügen, auch wenn die Kanten scheuern und es knirscht?
Ich glaube, es liegt daran, dass wir verstehen müssen, dass dies eine völlig andere Form der Liebe ist. Es ist keine Liebe, in die man hineinfällt und die einen blindlings trägt. Es ist eine entschiedene Liebe. Aber diese Entscheidung bringt Arbeit mit sich. Das Problem ist oft, dass wir versuchen, eine Beziehung zu führen wie mit 20, obwohl wir das Gepäck eines 50-Jährigen tragen. Wenn wir merken, dass die Teile nicht passen, reagieren wir mit Rückzug oder Angriff, oft getriggert durch alte Wunden. Wer schon einmal betrogen oder tief enttäuscht wurde, dessen Alarmglocken schrillen viel früher. Das Vertrauen ist ein kostbares Gut, das im Alter viel schwerer zu verschenken ist als in der Unschuld der Jugend. Wir schützen unseren „dicken Stamm“, unsere Identität, viel vehementer, weil wir wissen, wie weh es tut, wenn man versucht, uns zu verändern.
Der Mut zur radikalen Offenheit
Was ist also die Lösung? Sollen wir es sein lassen? Nein, ganz im Gegenteil. Aber ich bin überzeugt, dass wir eine neue Strategie brauchen. Wenn ich meine Bekannten beobachte, dann sehe ich, dass diejenigen eine Chance haben, die das System dahinter verstehen und darüber sprechen. Es reicht nicht mehr, nur Zeit miteinander zu verbringen. Wir müssen lernen, unsere „Bedienungsanleitung“ auf den Tisch zu legen. Es ist paradox: Gerade weil wir so gefestigt und vielleicht auch so vorsichtig geworden sind, müssen wir uns noch viel mehr öffnen als früher, um überhaupt eine Brücke zum anderen schlagen zu können. Wir müssen uns nackt machen – nicht körperlich, sondern seelisch.
Das bedeutet, offen darüber zu kommunizieren, warum wir so reagieren, wie wir reagieren. Zu sagen: „Ich reagiere gerade so abweisend, nicht weil ich dich nicht liebe, sondern weil ich in meiner letzten Ehe gelernt habe, dass Nähe Gefahr bedeutet.“ Das erfordert einen riesigen Vertrauensvorschuss. Es bedeutet, dem anderen die eigenen Narben zu zeigen, in der Hoffnung, dass er nicht hinein sticht, sondern sie sanft berührt. Nur durch diese radikale Kommunikation über unsere Werte, Ängste und Prioritäten können wir Verständnis für die Starrheit des anderen entwickeln. Wir müssen akzeptieren, dass wir den anderen Baum nicht mehr biegen können. Aber vielleicht können wir unsere Kronen so ineinander wachsen lassen, dass sie sich gegenseitig stützen, ohne sich das Licht zu nehmen. Es ist eine Liebe für Mutige, für Menschen, die bereit sind, das Puzzle nicht mit Gewalt, sondern mit Geduld und tiefem Verständnis neu zu sortieren.
Wie erlebt Ihr das? Findet Ihr es schwieriger, sich im „gesetzteren Alter“ auf jemanden einzulassen, oder genießt Ihr gerade diese bewusste Entscheidung füreinander, auch wenn sie mehr Arbeit bedeutet? Ich freue mich sehr auf Eure Gedanken in den Kommentaren.
Euer Schimon
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