Episode 11: Gefangen in der Vergangenheit – Schimon im Schatten des Krieges

Schimon stand noch einen Moment in der klirrenden Kälte, bevor er sich langsam von Josef entfernte. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, während er zur Waldarbeiterhütte zurückkehrte. Josef blieb zurück, kniete mit gesenktem Haupt im Schnee und betete leise weiter. Schimon warf einen letzten, nachdenklichen Blick auf ihn, dann wandte er sich endgültig ab.

Als er die Hütte betrat, umfing ihn sofort die behagliche Wärme des Ofens. Der Raum lag in einem schummrigen Licht, das von den glimmenden Holzscheiten ausging. Die Luft war schwer vom Geruch verbrannten Holzes und feuchter Kleidung. Die meisten Männer lagen zusammengerollt auf dem Boden oder auf den spärlichen Bänken entlang der Wände. Einige dösten, andere starrten ins Nichts. Nur der Feldwebel und einer seiner Soldaten saßen mit gedämpften Stimmen in einer Ecke und flüsterten miteinander.

Schimon suchte sich einen Platz in einer dunklen Ecke, weit weg vom Lichtschein des Feuers, und ließ sich langsam auf den Boden sinken. Er zog die Knie an und umklammerte sie mit den Armen. Günter, sein neunjähriger Vater, lag auf einer der Bänke, eng zusammengerollt wie ein kleiner Vogel, der Schutz suchte. Sein älterer Bruder Johannes saß daneben, den Kopf an die Wand gelehnt, die Augen halb geschlossen, während er vergeblich versuchte, ein wenig Schlaf zu finden. Der Feldwebel sprach leise mit seinem Soldaten.

„Morgen, wenn es hell wird, müssen wir etwas zu essen besorgen“, sagte er mit rauer Stimme. „Wir bleiben hier für den Rest der Nacht.“

Dann befahl er seinem Soldaten, draußen Wache zu halten. „Ich löse dich in zwei Stunden ab.“

Die Tür wurde leise geöffnet, ein eisiger Luftzug strich durch die Hütte, als der Soldat nach draußen trat. Wieder war Stille eingekehrt. Das leise Knistern des Feuers war das einzige Geräusch.

Schimon ließ seinen Kopf gegen die Wand sinken. Er wurde müde, doch in ihm arbeitete es weiter. Warum dauerte diese Zeitreise so lange? Bisher war er immer nur für kurze Augenblicke in die Vergangenheit gerissen worden, dann kehrte er zurück in die Gegenwart. Doch diesmal hielt ihn etwas hier. Etwas oder jemand.

Während er darüber nachdachte, fielen ihm langsam die Augen zu. Die Wärme des Ofens umfing ihn, seine Gedanken wurden träge, und schließlich glitt er in einen tiefen Schlaf.

Schimon erwachte langsam, seine Glieder waren steif vor Kälte. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein. Die Hütte, seine Familie, die Soldaten. Er hob den Kopf und sah sich um. Die Soldaten waren fort. Stattdessen saßen Emilie und Anna Lontke am Tisch. Emilie schnitt mit einem stumpfen Messer ein kleines Stück Brot in schmale Streifen. Ihre Bewegungen waren bedächtig, fast andächtig, als wolle sie jeden Krümel bewahren. Neben ihr saß Anna, ihr Gesicht von Sorgen gezeichnet.

„Kommt, Kinder“, sagte Emilie mit sanfter Stimme. „Wir wollen frühstücken. Es ist nicht viel, aber der Herr wird uns versorgen. Heute Mittag wird es gewiss wieder etwas geben.“

Langsam näherten sich Erika, Ruth, Valli, Johannes und Günter dem Tisch. Die Kinder bewegten sich mit vorsichtiger Zurückhaltung, als spürten sie instinktiv, dass jedes überhastete Geräusch die Stille zerschneiden und die fragile Ordnung dieses Augenblicks stören könnte. Günter, der Jüngste, blieb am Rand des Tisches stehen, seine kleinen, schmutzigen Finger umklammerten die grobe Holzkante. Sein Blick haftete an dem kärglichen Stück Brot, das Emilie sorgsam aufgeteilt hatte. Die Schatten seiner eingefallenen Wangen und der fahle Schimmer seiner Haut ließen ihn noch zerbrechlicher wirken.

Schimon beobachtete ihn genau. Der Junge schwankte leicht, als würde ihn bereits das Stehen Kraft kosten. In seinen großen, müden Augen lag eine Mischung aus Hunger, Erschöpfung und etwas, das Schimon den Atem nahm – ein Ausdruck von stummer Akzeptanz. Günter wusste, dass es nicht mehr geben würde, und doch hielt er inne, kämpfte mit sich, als wollte er das Stück Brot noch einen Moment länger betrachten, bevor es in seinem Mund verschwand. Ein leises Zittern lief über seine Lippen. Als der Blick von Schimon den seines Vaters traf, füllten sich seine Augen mit Tränen. Schimon blinzelte sie schnell weg.

Emilie legte die Hände andächtig gefaltet auf den Tisch, senkte den Kopf und begann mit leiser Stimme zu beten. Ihr Ton war voller Hingabe, voller Vertrauen, als spräche sie mit jemandem, den sie sehen konnte. „Herr, wir danken dir für das, was du uns gegeben hast. Segne dieses Mahl, möge es uns Kraft schenken für den Tag.“

Schimon hörte die Worte, doch sie klangen für ihn wie ein ferner, hohler Widerhall. Sein Blick fiel auf den kleinen Teller in der Mitte des Tisches. Ein paar schmale, sorgsam geschnittene Brotscheiben lagen darauf, kaum genug, um auch nur den ersten Hunger zu stillen. Die Kinder schauten mit großen Augen darauf, doch keiner griff zu. Sie warteten geduldig, als wäre dieses Wenige ein Festmahl, das es zu ehren galt.

Herr Lontke stand am Ofen. In einem alten, rußgeschwärzten Topf kochte Wasser. Er warf einige Heidelbeerzweige hinein und rührte mit einem Löffel. Der süßlich-herbe Duft breitete sich langsam im Raum aus. „Die Soldaten haben gesagt, dass sie wiederkommen wollen“, erklärte er mit gedämpfter Stimme. „Vielleicht bringen sie uns etwas zu essen mit.“

Er nahm einen Blechbecher, füllte ihn mit dem dampfenden Tee und reichte ihn weiter. „Trinkt, es wird euch wärmen.“ Der Geruch des kargen Heidelbeeraufgusses aus dem rußgeschwärzten Topf vermischte sich mit dem rauchigen Aroma der verkohlten Holzscheite im Ofen. Die Wärme des Feuers war trügerisch – sie reichte nicht aus, um den beißenden Frost, der durch die Ritzen der Hütte kroch, ganz zu vertreiben.

Schimon konnte nicht fassen, dass Emilie trotz dieser bitteren Kargheit mit solcher Inbrunst dankte. Für was? Für ein paar Brotkrümel, die nicht einmal ein einzelnes Kind satt machen konnten? Für das heiße Wasser, das nur eine vage Erinnerung an echten Tee war? Der Hunger nagte an ihm, und doch spürte er, dass es nicht nur sein Magen war, der sich dagegen sträubte, diese Worte anzunehmen.

Er betrachtete Emilie genauer. Ihre eingefallenen Wangen, die dunklen Ringe unter ihren Augen, die Risse in ihren Lippen. Die blaue Nase und die Spuren des Gewehrkolbens, der ihr Gesicht entstellt hatte. Und dennoch – ihr Ausdruck war voller Frieden. Sie glaubte wirklich an das, was sie sagte. Sie vertraute darauf, dass es ausreichen würde. Und vielleicht, dachte Schimon, vielleicht war genau das das Geheimnis ihres Überlebens.

Schimon beobachtete die Szene. Der Hunger nagte an ihm, seine Kehle fühlte sich trocken an. Doch er wusste, dass er hier nichts bekommen würde. Er war nicht wirklich Teil dieser Welt. Warum war er immer noch hier? Bisher waren seine Zeitreisen kurz gewesen, flüchtige Momente, bevor er wieder zurückkatapultiert wurde. Doch jetzt hielt ihn etwas fest. Er wurde unruhig. Was, wenn er in dieser Zeitblase gefangen war? Was, wenn er nie wieder zurückkehrte? Fortsetzung folgt…

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