Familiengeschichte

Episode 18 – Tiefflieger, Flammen, Hoffnung: Schimons Zeitreise in den Untergang

Der Tag verlief ruhig, fast unscheinbar. Wie so oft hatte Schimon am Morgen den Transporter beladen und die Wäsche des Seniorenheims Haus zum Fels zur Wäscherei gefahren. Die Sonne stand bereits warm am Himmel, als er die Landstraßen entlangrollte, die Fenster geöffnet. Der Wind brachte den Geruch von frischem Heu, feuchter Erde und den letzten Resten des Sommers mit sich. Schimon ließ die Gedanken treiben, während die Kilometer unter ihm hinwegzogen. In der Wäscherei wechselte er ein paar Worte, tauschte Lächeln aus, griff routiniert die Wägen mit der sauberen Wäsche und verlud sie wieder. Alles lief wie immer – und doch spürte er eine leise Spannung unter der Oberfläche, ein Ziehen in der Brust, als würde ihn etwas rufen.

Am späten Nachmittag kam er nach Hause. Das Haus empfing ihn in wohltuender Stille. Dany war bei den Enkeln, wie sie es oft tat. Schimon stellte seinen Rucksack ab, zog die Jacke aus, und für einen Moment blieb er im Flur stehen, lauschte der Ruhe. Dann ging er ins Arbeitszimmer. Vor dem Computer wartete die angefangene Zeittafel auf ihn. Er setzte sich, ließ die Finger über das Holz der Tischplatte gleiten, als wollte er die Gedanken sammeln, bevor er sie zu Papier brachte. Sorgfältig trug er die bisherigen Reisen ein. Jedes Bild, jede Beobachtung. Sein Ziel war es, Ordnung in die Erlebnisse zu bringen, einen roten Faden zu finden, der alles verband.

Aber während er schrieb, glitt sein Geist ab. Immer wieder tauchte das Bild von Oswald auf. Sein Großvater. Er sah ihn vor sich – eingezogen, weil er den Nazis unbequem war, verurteilt zu einem Kommando, das keiner überleben sollte. Ein LKW voller Benzinfässer, mitten am Tag, auf offener Straße, während die amerikanischen Tiefflieger den Himmel beherrschten. Schimon lehnte sich zurück. Er spürte, wie eine Welle von innerer Unruhe in ihm aufstieg. Er wollte mehr wissen. Wollte nicht nur die Erzählung kennen, sondern miterleben, was damals wirklich geschah.

Seine Hand glitt fast wie von selbst zu dem kleinen Kästchen auf dem alten Schreibtisch. Es lag da, unscheinbar und doch voller Macht. Schimon schloss die Augen, ließ die Szene in sich entstehen: der ratternde LKW, die flirrende Hitze, der angespannte Blick zum Himmel, das Kreischen der Maschinengewehre. Er atmete tief ein. Dann drückte er die Tasten. Das Summen setzte sofort ein – leise erst, dann stärker, vibrierend, als würde der Raum selbst zu atmen beginnen. Ein Sog ergriff ihn. Die Welt um ihn verschwamm. Gerüche, Geräusche, Farben – alles vermischte sich zu einem Strudel, der ihn mit sich riss.

Als er wieder zu sich kam, spürte er als erstes das ruckelige Schlagen von Holz unter seinem Körper. Er saß auf der Ladefläche eines fahrenden Lastwagens. Staub wehte in die Luft, die Sonne brannte auf seine Haut, der Motor dröhnte heiser und tief. Neben ihm hockte ein junger Soldat. Die Uniform war verwaschen, die Stiefel staubbedeckt. Der Junge klammerte sich an den Rand der Ladefläche, den Blick starr gen Himmel gerichtet. Seine Miene war angespannt, die Finger kneteten unruhig den Gewehrriemen. Schimon sah sich um. Vorne, unmittelbar neben ihm, war die Fahrerkabine. Er wusste es ohne jeden Zweifel: Oswald. Sein Großvater hielt das Steuer, fuhr den LKW durch eine Landschaft, die zerschlissen war vom Krieg. Die Straße unter ihnen war holprig, voller Schlaglöcher. Bei jeder Bodenwelle ruckte der Wagen, ließ die Fässer auf der Ladefläche gefährlich schwanken. Dann, ein plötzlicher Laut.

Das heulende Kreischen von Flugzeugmotoren, das durch Mark und Bein schnitt. Der junge Soldat klopfte hastig gegen das Dach der Fahrerkabine. Oswald reagierte sofort. Der LKW kam schlingernd zum Stehen. Es ging alles rasend schnell. Die beiden sprangen von der Ladefläche, tauchten in den Straßengraben. Schimon folgte instinktiv. Er warf sich zu Boden, presste sich ins hohe Gras. Die Erde roch nach Staub und verbrannter Sonne. Kaum hatte er den Atem angehalten, da krachte es los. Das Dröhnen der Tiefflieger, das Rattern der Maschinengewehre. Einschläge pflügten die Erde ringsum. Schimon spürte, wie sie klatschten, die Grashalme zerfetzten, die Steine hochspritzen ließen. Der Boden bebte unter jedem Treffer. Er drückte sich flacher in die Erde, sein Herz raste, sein ganzer Körper war angespannt vor nackter Angst. Acht Jahre Bundeswehr hatten ihn nicht auf diese rohe Gewalt vorbereitet. Das hier war anders. Unberechenbar. Endgültig. Und mitten in diesem Lärm begann Oswald zu singen. Leise zuerst, kaum mehr als ein Flüstern. Dann lauter, getragen vom Rhythmus der eigenen Überzeugung. Es war ein altes Lied, ein Gebet, das sich gegen die Maschinengewehrsalven stemmte, gegen die brennende Welt. Seine Stimme war ruhig, fest – und so erschütternd fehl am Platz, dass es Schimon die Kehle zuschnürte.

Dann kam die Explosion. Ein Krachen, als würde die Erde selbst zerreißen. Die Benzinfässer explodierten in einem einzigen, alles verschlingenden Feuerball. Eine gewaltige Druckwelle schleuderte Hitze und Rauch über sie hinweg. Flammen schossen in den Himmel, Fässer flogen brennend durch die Luft. Schimon presste sich tiefer in die Erde, hörte das Kreischen von verzogenem Metall, spürte Splitter, die an ihm vorbei zischten. Er roch verbrannten Gummi, heißes Öl, brennendes Holz. Für einen Moment schien alles Licht von der Welt verschluckt, nur Hitze, Rauch und der ferne Klang einer Stimme, die unaufhaltsam weitersang. Dann ebbte der Lärm ab. Das Rattern der Maschinengewehre verstummte, das Heulen der Flugmotoren entfernte sich, wurde zu einem fernen Grollen am Horizont.

Die Sonne stand noch immer am Himmel, grell und gleichgültig, als wäre nichts geschehen. Schimon hob vorsichtig den Kopf. In der Luft hing der beißende Gestank verbrannten Benzins. Vor ihm brannte der LKW, eine groteske Ruine aus verkohltem Holz und verbogenem Metall. Er sah hinüber zu Oswald, der still neben ihm lag, den Kopf noch immer tief im Gras vergraben. Und plötzlich stieg eine Frage in ihm auf, schwer und drängend: Hatte irgendjemand diesen Angriff überlebt?

Fortsetzung folgt…

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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