
Episode 19: Im Schutz vor den Einschlägen: Oswalds Glaube im Feuerhagel
Der Geruch von verbranntem Benzin hing schwer in der Luft. Schimon hob vorsichtig den Kopf. Noch eben hatte das Maschinengewehrfeuer den Boden um ihn herum durchpflügt, hatte er die Einschläge so nah gespürt, dass jede Pore seines Körpers bebte. Jetzt war es stiller geworden, der Himmel klar, als wäre nichts geschehen. Doch das war nur Fassade. Vor ihm brannte der LKW lichterloh, eine schwarze, knisternde Silhouette aus Rauch und Flammen. Der Boden war aufgewühlt, überall lagen verkohlte Reste, zerrissene Metallteile, zerborstene Bretter. Oswald lag flach im Gras, den Kopf tief zwischen den Armen. Schimon war wie gelähmt. Die Hitze, der Lärm, die Wucht der Explosionen hallten noch immer in seinem Inneren wider. Sein Puls raste, der Körper unter Spannung, das Adrenalin noch ungeordnet im Blut. Er wagte kaum, sich zu bewegen.
Neben ihm richtete sich der junge Beifahrer langsam auf. Sein Blick war wirr, Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wie ein Tier, das aus dem Feuer geflohen war und nun nicht wusste, ob es wirklich überlebt hatte. Er sah zu Oswald, kroch ein paar Schritte, streckte die Hand aus und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. „Oswald…“, keuchte er. „Wie konntest du… singen? Während… das alles… Ich… ich hab mir fast in die Hosen gemacht!“ Seine Stimme zitterte, eine Mischung aus Ungläubigkeit und blankem Schock. Oswald hob den Kopf. Langsam, bedächtig, als hätte er sich erst vergewissern müssen, dass die Welt noch stand. Seine Augen trafen die des jungen Mannes. Dann sagte er ruhig, fast sanft: „Johann, ich weiß, dass Gott uns beschützt. Und ich glaube, das hat er heute wieder getan. Schau dich doch mal um – wir leben noch.“
Johann drehte sich, immer noch auf Knien, langsam um. Sein Blick wanderte über die Erde. Einschläge. Überall. Kleine Krater, Splitter, aufgewühlte Erde. Bis auf wenige Zentimeter waren sie eingeschlossen gewesen von dieser Gewalt. Und doch: kein Treffer, kein Blut, kein Schrei. Johann blinzelte, als müsste er das erst begreifen. Schimon beobachtete das alles wie in Zeitlupe. Auch er begann zu verstehen, was er selbst im Moment des Angriffs gar nicht fassen konnte: Oswald hatte tatsächlich gesungen. Inmitten des Todes. Ein Lied – er konnte sich nicht erinnern, welche Worte es waren, aber die Melodie hallte noch in seinem Innersten nach. Es war wirklich geschehen. Und sie lebten.
Johann stand nun ganz auf. Er wischte sich mit zitternden Fingern über das Gesicht, griff dann in seine Hosentasche und zog einen kleinen Fotoapparat heraus. „Oswald, das müssen wir festhalten“, sagte er. „Niemand wird uns das sonst glauben.“ Oswald erhob sich langsam, klopfte sich den Dreck von der Uniform. Die Beine wirkten schwer, aber sie trugen ihn. Johann sah sich kurz um, suchte, fand einen langen Ast, der wohl aus einer nahe gelegenen Baumkrone gefallen war. Er steckte ihn in den Boden, befestigte die Kamera daran, stellte sie sorgfältig ein. Dann traten sie beide vor den ausgebrannten LKW, der noch immer vor sich hin glomm, und stellten sich auf. Es war ein seltsamer Moment – zwei Überlebende, vor dem, was sie fast das Leben gekostet hätte.
Nachdem das Bild gemacht war, senkte Johann die Schultern, sah Oswald an. „Wie kommen wir jetzt zurück zur Einheit?“, fragte er leise. „Das kann doch nicht sein… Die haben uns wirklich in den Tod geschickt. Am helllichten Tag, mit Sprit… Ich bin völlig durch den Wind. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.“ Oswald nickte. „Ich weiß. Es war ein Todeskommando. Ganz bewusst.“ Er sah hinüber zu den Überresten des Wagens, als wolle er sich vergewissern, dass das alles wirklich vorbei war. „Irgendjemand will mich aus dem Weg haben“, sagte er dann, ruhig. „Und sie wussten genau, dass Tiefflieger am Tag unterwegs sind. Es war eine Falle.“ Johann schüttelte den Kopf, fassungslos. Oswald legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. „Komm, wir gehen zu Fuß los. Vielleicht haben wir Glück und jemand nimmt uns mit.“
Sie packten ihre wenigen Sachen, warfen die zerschundenen Riemen über die Schultern und setzten sich langsam in Bewegung. Schimon folgte ihnen in einigem Abstand. Noch immer spürte er die Enge im Brustkorb, das Zittern in den Gliedern. Er konnte es kaum fassen. Oswald und sein Beifahrer – sie waren dem Tod entkommen. Knapp. Unfassbar knapp. Wenn es so etwas wie Bewahrung gab, dann war dies der Moment dafür gewesen.
Sie liefen eine Stunde, vielleicht etwas mehr. Die Sonne stand grell am Himmel, die Luft war flimmernd warm. Immer wieder blickten sie nach oben, suchten mit den Augen den Himmel ab, ob sich nicht doch noch ein weiterer Tiefflieger näherte. Doch es blieb ruhig. Schließlich hörten sie von Weitem das Dröhnen eines Motors. Ein Wehrmachts-LKW tauchte am Horizont auf, wurde größer, langsamer. Oswald trat an den Straßenrand, hob die Hand. Der Fahrer hielt an, sprach kurz mit ihm, nickte dann. Zufall – oder auch nicht. Der LKW fuhr tatsächlich in Richtung ihrer Einheit. Ohne viel zu sagen, sprangen sie auf die Ladefläche. Johann, erschöpft, aber erleichtert. Oswald, wachsam, still. Auch Schimon stieg auf. Keiner bemerkte ihn. Das Leben an diesem Ort kannte ihn nicht.
Er setzte sich auf eine der Kisten, hielt sich an einer Seitenstrebe fest und ließ den Blick über die Straße gleiten. Noch wusste er nicht, was ihn am Ziel erwartete. Noch wusste er nicht, was Oswald dem Hauptmann sagen würde. Aber eines wusste er: Das hier war kein Zufall gewesen. Und es war noch nicht vorbei. Fortsetzung folgt…

