
Wenn Fürsorge zur Falle wird – und Schuldgefühle uns vom Leben abhalten
Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Beitrag beginne. Denn Susis letzte Mail hat mich an etwas erinnert, das ich selbst nur zu gut kenne – diesen tief verankerten Satz in uns: „Wenn ich an mich denke, lasse ich andere im Stich.“
Wie oft habe ich Menschen begleitet, die genau daran innerlich zerbrochen sind. Eltern, Pflegende, Menschen mit viel Verantwortung. Sie alle glaubten, sie dürften sich selbst nicht wichtig nehmen, weil sonst etwas – oder jemand – zu kurz kommt.
Aber das ist ein Trugschluss. Eine Lebenslüge, die sich oft unbemerkt in unser Denken schleicht, genährt von Erziehung, gesellschaftlichen Erwartungen, alten Mustern. Dabei ist es genau andersherum: Nur wer für sich sorgt, kann auch für andere da sein – wirklich, ehrlich, kraftvoll.
Susis Worte sind ein stiller Aufschrei, aber auch der erste Schritt zur Befreiung. Und genau das beeindruckt mich so sehr an ihr.
Susis Nachricht an mich
Mittwoch, 09.04.2025
Betreff: Ein Schritt nach dem anderen
Lieber Herr Winkler,
danke für Ihre Antwort – und vor allem dafür, wie respektvoll und offen Sie mir begegnen. Das hat mich wirklich berührt. Ich habe Ihre Zeilen mehrmals gelesen, fast so, als müsste ich mich erst davon überzeugen, dass ich wirklich gemeint bin.
Sie haben gefragt, was im Moment meine größte Herausforderung ist. Ich glaube, es ist dieser ständige innere Druck, alles richtig machen zu müssen – für die Kinder, im Job, im Alltag. Ich wache morgens auf und denke schon an all das, was erledigt werden muss. Und abends, wenn endlich Ruhe einkehrt, bin ich oft einfach nur leer. Es ist, als würde mein Leben durch meine Finger rinnen, ohne dass ich wirklich Teil davon bin.
Was ich mir wünsche? Vielleicht einfach mal einen Tag ohne schlechtes Gewissen. Einen Tag, an dem ich nur für mich da sein darf – ohne zu denken, ich würde jemand anderen im Stich lassen. Ich merke, wie sehr ich mich selbst vernachlässigt habe. Früher war ich kreativ, spontan, leidenschaftlich. Heute habe ich das Gefühl, ich funktioniere nur noch. Ich vermisse mich selbst – aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, mich wiederzufinden.
Ich schreibe Ihnen das alles und frage mich gleichzeitig, ob das nicht schon zu viel ist. Vielleicht ist es das, was mich am meisten belastet: dass ich mich ständig rechtfertige. Für meine Gefühle, für meine Schwächen. Und vielleicht auch dafür, dass ich überhaupt Hilfe brauche.
Danke, dass Sie zuhören.
Herzliche Grüße
Susi
Meine Antwort an Susi
Mittwoch, 09.04.2025
Liebe Susi,
ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Zeilen. Sie schreiben mit so viel Klarheit und zugleich so viel Wärme – das berührt mich sehr. Und ich habe das Gefühl, dass in Ihrem Schreiben bereits etwas geschieht: Sie geben sich selbst eine Stimme. Eine, die lange still war. Eine, die wieder gehört werden will.
Sie schreiben von dem Wunsch nach einem Tag ohne schlechtes Gewissen. Und ich frage mich: Wer hat Ihnen beigebracht, dass Sie sich schuldig fühlen müssen, wenn Sie sich um sich selbst kümmern?
Solche Sätze entstehen nicht einfach so. Sie wachsen in uns – manchmal unbemerkt, über viele Jahre. Vielleicht haben Sie sie als Kind aufgeschnappt, vielleicht durch Vorbilder gelernt. Vielleicht wurden sie Ihnen nie bewusst gesagt – aber ständig vorgelebt.
Ich glaube, es ist an der Zeit, diesen Satz umzuschreiben. Nicht mit einem roten Stift, sondern mit der Wahrheit:
„Nur wenn ich auf mich achte, kann ich für andere da sein. Nur wenn ich gut zu mir bin, lasse ich niemanden im Stich.“
Es ist nicht egoistisch, auf sich zu hören – es ist verantwortungsvoll.
Darf ich Sie etwas fragen, Susi? Sie haben von Ihren Kindern geschrieben. Gibt es noch andere Menschen in Ihrem Leben, für die Sie sich mitverantwortlich fühlen? Wer gehört zu Ihrem engsten Kreis – zu denen, die in Ihrem Alltag eine Rolle spielen, vielleicht sogar unbemerkt Kraft kosten oder geben?
Ich bin gespannt, was Sie mir erzählen möchten.
Herzliche Grüße
Schimon

