Kalenderblatt

9.12.1932 – Einsteins leiser Abschied, trügerische Amnestie und der Beginn eines fernen Krieges

Wenn ich heute auf den 9. Dezember 1932 zurückschaue, dann spüre ich vor allem die Kälte dieses Freitags. Es war ein Tag mitten im harten Winter, geprägt von Arbeitslosigkeit und der täglichen Sorge ums Überleben. Die Menschen in Deutschland waren müde von den politischen Kämpfen und sehnten sich einfach nur nach Ruhe. Es ist ein Datum, das mich sehr nachdenklich stimmt, weil es uns zeigt, wie ahnungslos wir oft mitten in historischen Wendepunkten stecken. Während die meisten nur auf das kommende Weihnachtsfest hofften, wurden im Hintergrund – teils laut, teils ganz leise – die Weichen für eine dunkle Zukunft gestellt. In Berlin, in Asien und in einem kleinen Haus in Brandenburg passierten Dinge, deren Tragweite damals kaum jemand erahnen konnte.

Die staatlich verordnete Versöhnung und ihre Tücken

In der Hauptstadt Berlin herrschte an diesem Freitag eine eigenartige, fast fiebrige politische Betriebsamkeit. Der Reichstag debattierte und finalisierte in diesen Stunden das sogenannte „Straffreiheitsgesetz“, eine Amnestie, die wenige Tage später in Kraft treten sollte. Der Gedanke dahinter, initiiert von der Regierung unter Kurt von Schleicher, klingt aus heutiger Sicht rührend naiv und zugleich zutiefst verzweifelt. Man wollte einen „Weihnachtsfrieden“ erzwingen. Man wollte die tiefen Gräben, die die bürgerkriegsähnlichen Zustände des Jahres 1932 durch die Gesellschaft gezogen hatten, einfach zuschütten. Tausende, die wegen politischer Gewalttaten in den Gefängnissen saßen, sollten freikommen.

Ich stelle mir vor, wie die Menschen damals die Zeitungen lasen und einen Funken Hoffnung spürten. Vielleicht dachten sie, dass nun endlich Ruhe einkehren würde, dass man sich am Ende des Jahres die Hände reichen könnte. Doch es war eine tödliche Illusion. Denn diese Amnestie war blind; sie öffnete die Tore nicht nur für Verzweifelte, sondern auch für brutale Schläger der SA und anderer radikaler Gruppen, die den Staat, der sie gerade begnadigte, zutiefst verachteten. Es war der letzte, tragische Versuch der Weimarer Republik, Menschlichkeit zu zeigen, kurz bevor die absolute Unmenschlichkeit die Macht übernahm. Wir lernen daraus eine schmerzhafte Lektion für unser eigenes Leben: Wahre Versöhnung lässt sich nicht per Dekret von oben verordnen. Sie muss in den Herzen wachsen, sonst ist sie nur ein brüchiges Pflaster auf einer eiternden Wunde.

Der dunkle Schatten im fernen Osten

Während man sich in Deutschland noch in der trügerischen Sicherheit dieses politischen Manövers wiegte, schuf das Militär am anderen Ende der Welt bereits blutige Fakten, die das Schicksal des gesamten Planeten beeinflussen sollten. Genau an diesem 9. Dezember 1932 begannen japanische Truppenverbände ihre Vorstöße in die chinesische Provinz Jehol. Auch wenn viele Geschichtsbücher die großen Schlachten erst auf das Frühjahr 1933 datieren, so markiert dieser Tag den Moment, in dem der Konflikt unumkehrbar wurde. Japan hatte die Mandschurei bereits verschluckt, und nun griff die imperiale Gier nach dem nächsten Stück Land, nach der strategischen Pufferzone zu Peking.

Es ist erschreckend, diese Gleichzeitigkeit zu betrachten. Während in Genf die Diplomaten der Weltmächte noch höflich am grünen Tisch über Abrüstung diskutierten und sich in Wortklaubereien verloren, rollten in China bereits die Panzer und marschierten die Stiefel. Es zeigt uns, wie vernetzt unser Schicksal schon damals war. Der Krieg, der später die ganze Welt in Brand setzen sollte, hatte hier seinen leisen, von Europa ignorierten Auftakt. Die Menschen in Berlin froren und sorgten sich um das nächste Brot, nicht ahnend, dass tausende Kilometer entfernt die Weltordnung bereits Risse bekam, die nicht mehr zu kitten waren. Es erinnert mich daran, wie oft wir im Kleinen wie im Großen die Augen vor den Problemen verschließen, solange sie weit weg scheinen, bis sie plötzlich direkt vor unserer Haustür stehen.

Wenn die Vernunft leise die Koffer packt

Das vielleicht berührendste und symbolträchtigste Ereignis dieses Tages fand jedoch fernab der großen Schlagzeilen statt, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Wir blicken nach Caputh bei Potsdam, in das Sommerhaus von Albert Einstein. Zwar verließ er Deutschland offiziell erst am darauffolgenden Tag, dem 10. Dezember, zu einer Reise in die USA, doch wir müssen davon ausgehen, dass dieser 9. Dezember sein eigentlicher Abschied war. Es lässt sich historisch nicht auf die Stunde genau belegen oder in einem Protokoll nachlesen, was er an diesem Freitag tat oder fühlte. Aber die Logik und die Umstände sprechen eine deutliche Sprache: Es war der Tag, an dem die Koffer gepackt wurden, der Tag, an dem der letzte Blick durch die Zimmer wanderte.

Das gesellschaftliche Klima war vergiftet; an den Universitäten wurden jüdische Studenten am Lernen gehindert, der Antisemitismus war keine Randerscheinung mehr, sondern brüllte auf den Straßen. Einstein, mit seiner feinen Intuition nicht nur für Physik, sondern auch für Humanität, muss gespürt haben, dass es kein Zurück mehr geben würde. Es gibt die Überlieferung, dass er beim Verlassen des Hauses zu seiner Frau Elsa sagte: „Dreh dich um. Schau dir das Haus gut an. Du wirst es nie wiedersehen.“ Ob dieser Satz genau an diesem Freitag fiel, wissen wir nicht, aber die Schwere des Abschieds liegt über diesem Datum. Es war der Tag, an dem die Vernunft ihre Koffer packte und ging. Kennt Ihr diese Momente im eigenen Leben, in denen man tief im Inneren spürt, dass ein Kapitel unwiderruflich zu Ende geht, auch wenn man es noch nicht wahrhaben will? Gab es bei Euch schon einmal so eine stille Vorahnung, die Ihr erst viel später wirklich verstanden habt? Ich lade Euch ein, Eure Gedanken dazu mit mir zu teilen.

Euer Schimon


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Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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