Unwillkürlich spürte Schimon das altbekannte Verlangen nach einer Zigarette. Dieses Laster begleitete ihn schon viel zu lange, besonders in Momenten des Nachdenkens. Er zog seine Jacke an und trat auf den Balkon. Die kalte Luft begrüßte ihn. Während der Rauch in die stille Nachmittagssonne stieg, wanderte sein Blick zum Horizont. Normalerweise inspirierten ihn solche Momente, doch diesmal war sein Kopf wie leergefegt. Was für ein Rätsel hatte Oswald ihm da hinterlassen?
Er drückte die Zigarette aus und kehrte in sein Zimmer zurück. Mit einem entschlossenen Blick setzte er sich an den Schreibtisch, wo das mysteriöse Kästchen auf ihn wartete. „Jetzt mal systematisch vorgehen,“ murmelte er. Er betrachtete die seltsamen Tasten, die mechanische Präzision ausstrahlten, und den metallischen Ring, der fast wie ein Fingerabdruck Scanner wirkte. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Zu Oswalds Zeiten? Wohl kaum. Dennoch legte er zögernd seinen Daumen auf das Plättchen in der Mitte des Rings.
Ein plötzlicher Schauer durchfuhr ihn, als er eine kaum merkliche Vibration unter seinem Finger fühlte. Schimon spürte eine seltsame Energie, die das Kästchen wohl ausstrahlen musste, und zog die Hand erschrocken zurück. Er starrte das Kästchen an, hatte er sich das eingebildet? Doch als er seinen Daumen erneut auflegte, war sie wieder da.
Mit klopfendem Herzen drückte Schimon gleichzeitig, vorsichtig eine Taste nach der anderen, bis eine Taste in der Mitte nachgab. Plötzlich erfüllte ein tiefes Dröhnen seine Ohren, vibrierte durch seinen ganzen Körper und ließ seine Hände zittern. Ein unsichtbarer Sturm erfasste ihn, riss ihn aus der Realität, es wurde ihm schwindlig, er suchte Halt, verlor jede Kontrolle. Die Luft schien um ihn herum zu wirbeln, als ob ein Tornado aus Licht und Schatten ihn umschloss. Sein Atem stockte, seine Brust zog sich vor Panik zusammen. Er wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Die Welt um ihn herum zerfloss in einem wirbelnden Schwarz, das ihn verschlang.
Dann war alles still. Ein bedrückendes, schweres Schweigen legte sich auf ihn, wie eine erdrückende Last, die seine Gedanken einfing und ihn in der Dunkelheit zurückließ. Sein Herz raste, als er verzweifelt nach einem Halt in dieser endlosen Leere suchte.
Als er langsam zu sich kam, wurde das Schweigen von einem rhythmischen Hämmern durchbrochen. Es vermischte sich mit dem Kreischen von Maschinen und gedämpften Stimmen. Der Geruch von frisch geschnittenem Holz, Farbe und altem Maschinenöl drang in seine Nase. Schimon blinzelte und erkannte die Umrisse einer großen Halle. Hohe Decken, getragen von staubigen Holzbalken, und Arbeiter, die in einfachen Hemden und Hosen geschäftig ihrer Arbeit nachgingen.
Seine Gedanken wirbelten. Wo war er? Was war geschehen? Panik überkam ihn, als er nach Halt suchte und seine Hände auf den kalten Stahl einer Werkbank stießen. Das Material fühlte sich kalt und so real an, dass ihm ein Schauder den Rücken hinablief. Es war kein Traum. Sein Blick fiel auf eine Zeitung, die achtlos auf einem Stapel Holz lag. Das Datum auf der Titelseite sprang ihm ins Auge: „1. April 1941 – Thüringer Gauzeitung.“
„Das kann nicht sein…“ flüsterte Schimon. Sein Atem beschleunigte sich. Er war in der Vergangenheit.
In einer Ecke der Halle unterhielten sich zwei Arbeiter. Schimon ging ein paar Schritte auf sie zu. „Hast du gehört? Die Wehrmacht plant einen Einmarsch in Jugoslawien,“ sagte der eine mit ernster Stimme.
„Ja, auch Griechenland soll angegriffen werden. Es wird immer schlimmer, wo soll das noch hin führen,“ erwiderte der andere. Schimon spürte die bedrückende Last der Zeit, die Sorgen, die in den Gesichtern der Männer standen.
Dann fiel sein Blick auf ein kleines Logo, das auf mehreren Kisten und Werkzeugen prangte: „Holzwarenfabrik Hans Schonath.“ Der Name kam ihm bekannt vor. Er erinnerte sich, dass sein Großvater Oswald hier in Uhlstädt während des Krieges gearbeitet hatte. Es hieß, die Fabrik habe sich auf die Produktion von stabilen und sicheren Kinderbetten spezialisiert. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken, als ihm bewusst wurde, wie nah er vermutlich der Vergangenheit seiner Familie war.
Sein Blick wanderte durch die Halle, bis er eine Gestalt erblickte, die ihm seltsam vertraut vorkam. Ein Mann, Mitte vierzig, mit grauen Schläfen und einem entschlossenen Ausdruck. Oswald. Schimons Herz schlug bis zu seinem Hals.
„Großvater,“ hauchte er und machte einen Schritt nach vorn. Seine Stimme verhallte in der dröhnenden Halle. Keine Reaktion. Er versuchte, den Ärmel seines Großvaters zu berühren, doch seine Hand glitt hindurch wie durch Luft. Schimon erstarrte. Es war, als sei er ein Geist, ein unsichtbarer Zeuge der Vergangenheit.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er konnte fühlen, sehen, hören, riechen – aber keine Menschen berühren, die Vergangenheit ließ sich durch ihn nicht verändern. Ein Gefühl tiefer Machtlosigkeit überkam ihn. Doch dann erwachte etwas in ihm: Wenn er nichts beeinflussen konnte, würde er beobachten, jedes Detail aufnehmen, um die Geschichte seiner Familie zu erleben und zu verstehen.
Oswald wirkte konzentriert, seine Bewegungen kraftvoll und zielgerichtet. Schimon beobachtete, wie er mit den Arbeitern sprach, Anweisungen gab, stets mit einem Hauch von Autorität. Es war seltsam, seinen Großvater in diesem Licht zu sehen – jung, stark, mitten im Leben. Schimon spürte eine Welle von Emotionen, die ihn überrollte, während er seinen Großvater beobachtete. Ehrfurcht und Verwunderung über diese unerwartete Begegnung mischten sich mit einer tiefen Sehnsucht nach Antworten. Die Erkenntnis, Oswald so lebendig zu sehen, in einem Alter in dem er ihn niemals gekannt hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Seine Augen brannten, und eine stille Träne rollte über seine Wange, während er versuchte, die Vertrautheit dieses Moments in sich aufzunehmen. Gleichzeitig nagte die Angst an ihm – Angst davor, dass er für immer in dieser Welt gefangen sein könnte.
Immer wieder wirbelten diese Gedanken in seinem Kopf: Wie war er hierher gelangt? Und vor allem – wie würde er wieder zurückkehren? Fortsetzung folgt…
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