Oswald Winkler steht im Treppenhaus. Bild: Peter Winkler

Oswald stand bei einem anderen Mann, der kleiner war, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einem freundlichen Lächeln. Das musste Hans Schonath sein. Schimon folgte ihnen vorsichtig, als sie sich in Richtung eines Büros bewegten. Er konnte jedes Detail der Szene wahrnehmen – das Knarren der Dielen unter ihren Schritten, das leichte Quietschen der Bürotür, als sie hinter ihnen ins Schloss fiel. Er schlüpfte mit in das Büro, obwohl er wusste, dass ihn niemand bemerken würde.

Im Büro herrschte eine warme, fast familiäre Atmosphäre. An den Wänden hingen gerahmte Bilder von der Fabrik und alte Werbeanzeigen. Ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz stand in der Mitte des Raumes, darauf eine Schreibmaschine und daneben einige Unterlagen und Papiere. Der Geruch von altem Papier und frischem Holzstaub lag in der Luft, ein leiser Zeuge des geschäftigen Treibens dieser Fabrik.

Oswald sprach als Erster. „Hans, ich möchte dir noch einmal danken. Diese zwei Jahre hier in deiner Fabrik waren eine wichtige Zeit für mich und meine Familie. Aber wir müssen diesen Schritt wagen. Das Landhaus in Schlesien ist unsere Chance auf einen Neuanfang. Für Emilie und mich ist das wie ein Geschenk von unserem lebendigen Gott.“

Hans nickte langsam, seine Hände ruhten auf der Schreibtischkante. „Oswald, ich verstehe das. Aber es fällt mir schwer, dich gehen zu lassen. Du bist nicht nur ein herausragender Werkführer gewesen, sondern auch ein Freund. Ohne dich hätte ich die Produktion in diesen schwierigen Zeiten kaum aufrechterhalten können.“

Oswald lächelte schwach. „Du weißt, dass ich immer mit ganzem Herzen dabei war. Aber die Zeiten werden nicht einfacher, und ich muss an meine Familie denken.“

Hans stand auf und ging zum Fenster. Er sah hinaus auf den Hof der Fabrik, wo Arbeiter Stapel von Holzlatten auf Lkw verluden. „Ich hoffe, dass du in Schlesien das findest, was du suchst. Aber versprich mir eines: Bleib in Kontakt. Wenn du irgendetwas brauchst, lass es mich wissen.“

Oswald nickte, und für einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Es war ein Schweigen, das mehr sagte als Worte – eine Mischung aus Abschied und Respekt.

„Hans, ich habe jetzt auch das Zimmer hier in Uhlstädt gekündigt“, sagte Oswald nach einer Weile. „Es macht keinen Sinn mehr, es zu halten, wenn wir bald nach Schlesien ziehen. In Schieben läuft gerade der Verkauf unseres Hauses, damit wir den Kaufpreis für das Landhaus bezahlen können.“

Hans nickte verständnisvoll, seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. „Es wird auch Zeit, dass ihr eure Möbel bei der Spedition in Bad Kösen holt. Euer Haus in Schieben war halt doch nur eine Notlösung.“

„Ich bedauere auch, dass ich meinen Opel nicht mehr habe“, sagte Oswald mit einem Seufzer. „Sie haben ihn beschlagnahmt, die Wehrmacht. Es ist, als ob sie einem alles nehmen.“

Hans‘ Augen verengten sich leicht, und er legte seine Hand beruhigend auf Oswalds Arm. „Das tut mir leid, Oswald. Es scheint, als wolle dieser Krieg nichts unberührt lassen. Aber ich verstehe, warum du mit deiner Familie fort möchtest. Du hast so viel durchgemacht, so viel ertragen.“

Oswald sah Hans an, seine Augen voller Sorge und Entschlossenheit. „Immer wieder kamen die Männer von der Gestapo in unser Haus in Schieben. Sie haben alles durchwühlt, Papiere genommen, Fragen gestellt. Es war ein Albtraum, Hans. Wie soll ich meine Familie schützen, wenn ich bleibe? Ich habe keine andere Wahl.“

Hans atmete tief ein und nickte langsam. „Oswald, ich bewundere deinen Mut und deine Entschlossenheit. Du tust das Richtige. Deine Familie steht an erster Stelle. Aber ich werde dich hier vermissen. Nicht nur als meinen Werkführer, sondern als Freund.“

Plötzlich spürte Schimon, wie alles um ihn herum zu flimmern begann. Die Szene vor ihm wurde unscharf, die Stimmen gedämpft. Das bekannte Dröhnen füllte seine Ohren, und dann war alles wieder schwarz.

Als er die Augen öffnete, saß er an seinem Schreibtisch, das Kästchen vor sich. Sein Herz raste, und seine Hände zitterten. Er war zurück in der Gegenwart, aber die Eindrücke dieser Reise würden ihn nicht so schnell loslassen. Der Geruch von Holzstaub und Maschinenöl hing noch in seiner Nase, und das Hämmern der Maschinen schien noch in seinen Ohren widerzuhallen.

Schimon war Schweiß gebadet, sein Atem ging stoßweise. Er blickte auf die Uhr an der Wand, doch die Zeit schien ihn zu verhöhnen. Er hatte das Gefühl, eine Stunde weg gewesen zu sein, doch die Zeiger hatten sich kaum bewegt. Es war, als hätte dieser Zeitsprung in einem Augenblick stattgefunden. Zweifel nagten an ihm. War es vielleicht nur eine Halluzination gewesen? Ein Traum, ausgelöst durch die Aufregung oder war er vielleicht überarbeitet? Aber nein, alles in Thüringen hatte sich so echt angefühlt: der Geruch von Sägemehl, das Hämmern der Maschinen, die Stimmen der Arbeiter.

Seine Gedanken wanderten zurück zu den Gesprächen, die er belauscht hatte. Die Arbeiter hatten vom Einmarsch in Jugoslawien gesprochen. Zu welchem Zeitpunkt war das? Neugierig und fast schon verzweifelt klappte er seinen Laptop auf und tippte „Einmarsch in Jugoslawien“ in die Suchmaschine. Die Ergebnisse ließen ihn innehalten. „Unternehmen 25“ – es war tatsächlich ein militärischer Plan der Wehrmacht, ein Einmarsch in Jugoslawien, der im April 1941 begonnen hatte. Die Realität dessen, was er erlebt hatte, griff nun vollends nach ihm. Dieses kleine Kästchen vor ihm, unscheinbar und doch so mächtig, war eine Zeitmaschine. Es gab keinen Zweifel mehr.

Doch die Frage, wie es in den Besitz seines Großvaters Oswald gelangt war, ließ ihn nicht los. Hatte seine Familie Geheimnisse, von denen er nichts wusste? War Oswald in Dinge verwickelt, die er nie geahnt hatte? Schimon spürte, wie diese Gedanken ihn überwältigten. Eine Sache war ihm jedoch klar: Er durfte mit niemandem darüber sprechen. Nicht einmal mit Dany, seiner Frau. Sie würde ihn für verrückt halten. Jeder würde das.

Mit einem Seufzen klappte er den Laptop zu und schob das Kästchen in den Schrank, als wolle er es für einen Moment aus seinem Leben verbannen. Doch es blieb ein leises Summen in seinem Kopf, ein Ziehen, das ihn nicht losließ. Er griff nach seiner Jacke und trat hinaus in die kalte Nachtluft. Der Wind fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an, doch er begrüßte ihn. Schimon ging ein paar Schritte, seine Gedanken wirbelten. Er brauchte Klarheit. Ein paar Meter zu laufen, um die Fassung wiederzugewinnen und zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Fortsetzung folgt…

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Von Peter Winkler

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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