Familiengeschichte

Episode 16 – Eine neue Heimat, ohne Sicherheit und voller Gefahren

Die Luft stand still an diesem Nachmittag in Limburg. Nebel zog in feinen Schleiern durch die Straßen, als sich die kleine Gruppe, erschöpft und entkräftet, vor der russischen Kommandantur versammelte. Schimon stand leicht abseits und beobachtete das Bild, das sich ihm bot: Herr Lontke mit entschlossener Miene, seine Frau Anna an seiner Seite, die Tochter Valli mit eingefallenen Wangen, daneben Emilie – seine Großmutter – mit gesenktem Haupt. Ihre Kinder Ruth, Erika und Hans hatten die Arme fest an den Leib gezogen, als wollten sie sich wärmen, und Günter, Schimons Vater, schien in seinen zerschlissenen, zu kurzen Hosen beinahe zu schwanken. Nur ein wenig Leben glomm in seinen Augen – vielleicht dank des eingeweckten Safts, den er zuvor von Erika und Ruth noch bekommen hatte. Sein Gesicht war von einem juckenden Ausschlag gezeichnet, seine Haut fahl. Auch Schimon selbst fühlte sich fremd und leer – wie ein Beobachter ohne Einfluss.

Schimon ging als Letzter durch das Tor der Kommandantur, die wie eine düstere Festung aussah. Das Gebäude war kalt und grau, der Putz bröckelte, und in den Fluren hallten die Schritte der russischen Wachen unheimlich wider. Die Gruppe wurde von einem finster dreinblickenden Soldaten empfangen, dessen Uniform zu groß schien für seinen schmalen Körper. In seinen Augen lag keine Spur von Mitgefühl. Alle standen still, die Anspannung war beinahe greifbar.

Herr Lontke, mit einer Mischung aus Mut und Verzweiflung, trat vor und sprach den Soldaten auf Deutsch an. Nach einem knappen Austausch wurden sie in einen Raum geführt, in dem ein älterer Soldat an einem einfachen Holztisch saß. Er war grauhaarig, mit markanten Gesichtszügen, und seine Augen musterten die Ankommenden mit einer Mischung aus Müdigkeit und Wachsamkeit.

„Guten Tag“, sagte er überraschend klar in holprigem Deutsch. „Wir wissen von unseren Soldaten im Wald, woher ihr kommt. Ihr müsst hierbleiben. Hier, in Limburg.“ Seine Stimme war sachlich, fast neutral, doch der Befehl darin war unmissverständlich.

Er rief einen jungen Soldaten herein, kaum älter als Ruth oder Erika. Der Junge hatte ein schmales, kindlich wirkendes Gesicht, über das sich ein Hauch von Bartflaum zog. Seine Uniform war ihm zu groß, die Ärmel hingen ihm fast bis zu den Fingergelenken. Er wirkte nervös, fast überfordert, als er den Befehl des Offiziers auf Russisch entgegennahm. Ruth und Erika warfen sich erschrocken einen Blick zu, ihre Hände zuckten instinktiv zueinander, doch sie wagten es nicht, sich zu berühren. Der junge Soldat räusperte sich, sein Blick huschte über die Gruppe, dann winkte er mechanisch in Richtung Tür. Seine Geste war fahrig, aber eindeutig. Lontke verstand und bedeutete allen mit einem stummen Nicken, dem Jungen zu folgen. Die Gruppe setzte sich schweigend in Bewegung, ein Zug müder Schatten im fahlen Licht des Nachmittags.

Draußen auf der Straße schien die Welt stillzustehen. Niemand sprach ein Wort, als sie dem Soldaten mehrere hundert Meter durch das Dorf folgten. Schließlich blieb er vor einem Haus stehen – einem zweigeschossigen, gedrungenen Gebäude, das schon bessere Tage gesehen hatte. Er zeigte mit der Hand darauf und sagte knapp: „Da.“

Emilie trat als Erste vor. Als sie das Haus betrat, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre Augen weiteten sich. Die Möbel waren umgestürzt, zerbrochen, Kleidungsstücke lagen verstreut, Glassplitter knirschten unter ihren Füßen. Alles sah aus, als hätte eine wilde Horde hier gewütet – vermutlich die russischen Soldaten, die in ihrer Zerstörungswut alles aus dem Haus gerissen hatten.

„Warum?“, flüsterte sie, und Tränen traten ihr in die Augen. „Warum so viel Hass?“

Langsam begannen sie, das Haus zu betreten. Es gab keine Stühle, keine Betten. Nur leere Räume, kalte Böden, und ein kleiner, alter Holzofen im Wohnzimmer. Lontke beugte sich schweigend zu ihm, tastete nach dem Schieber, und begann mit wenigen trockenen Holzscheiten ein Feuer zu entzünden. Ein schwaches Licht flackerte auf, der erste Hauch von Wärme in dieser trostlosen Welt.

Valli, Ruth und Erika verschwanden nach draußen, fanden eine Scheune, voll mit altem Stroh. Bevor sie sich jedoch ans Werk machten, sahen sie sich vorsichtig um – ihre Blicke huschten von der Scheune zu Straße, sie hatten das Hoftor im Blick. Die Angst, russischen Soldaten zu begegnen, lag schwer auf ihren Schultern. Erika hatte sich ein Kopftuch übergestreift, tief in die Stirn gezogen, um älter zu wirken. Auch Ruth und Valli hatten sich die Jacken enger um die Schultern gelegt und versuchten, mit ernster Miene und aufrechter Haltung erwachsener zu erscheinen, als sie waren. Wortlos begannen sie dann, das Stroh ins Haus zu tragen, Bündel um Bündel, bis es sich auf dem Boden wie eine provisorische Matratze ausbreitete. Es roch nach altem Gras und Staub, aber es war weich und bot wenigstens ein wenig Schutz vor der Kälte.

Die Nacht senkte sich langsam über Limburg. Die Fenster waren zerbrochen, durch Lappen und Decken notdürftig verschlossen. Im Wohnzimmer sank die Familie, dicht aneinandergeschmiegt, in das Stroh. Auch Schimon legte sich an die Wand, den Kopf auf seinen Arm gestützt. Er konnte nicht sagen, ob ihn Kälte oder Müdigkeit mehr quälte. Alles an diesem Tag hatte ihn erschöpft – die Angst, das Elend, das Schweigen der Erwachsenen.

Kaum hatte er die Augen geschlossen, durchbrach plötzlich ein markerschütterndes Geschrei die Nacht.

Von draußen klangen grölende Stimmen heran – russische Soldaten, betrunken. Sie lachten, schrien, sangen schief in ihrer Sprache, und dann ein dumpfer Schlag – jemand trat gegen die Tür.

Ein zweiter Schlag. Die Tür wackelte.

Günter presste sich an Emilie. Ruth hielt den Atem an. Schimon spürte, wie sein Herz raste. Was, wenn sie hereinkamen? Was, wenn sie sich an den Mädchen vergriffen? Er wagte kaum zu atmen. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich. Er konnte nichts tun. Nur lauschen, warten, hoffen – Dass die Tür hielt.

Fortsetzung folgt…

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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