Schimon wachte um 4:45 Uhr auf. Seine normale Zeit zum Aufstehen. Doch heute war es anders. Er war sofort wach, sein Herz raste, als würde es gegen seine Brust hämmern. Sein erster Gedanke galt dem Kästchen. Die Stille der Nacht umgab ihn, doch in seinem Kopf herrschte ein Sturm aus Neugier und Unruhe. Er konnte nicht mehr schlafen. Das Kästchen. Es ließ ihn nicht los. Am Abend hatte er es wieder in den Schrank gestellt, doch seine Gedanken kreisten unaufhörlich um diese Möglichkeit, seine Familiengeschichte intensiver zu entdecken.
Leise schob er die Decke beiseite und setzte sich auf. Das Zimmer war still, nur das leise Ticken der Wanduhr war zu hören. Sein Blick wanderte zum Schrank. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich, öffnete ihn und nahm das Kästchen heraus. Es fühlte sich kühl an in seinen Händen, geheimnisvoll, voller ungesprochener Geschichten. Mit klopfendem Herzen setzte er sich an seinen Schreibtisch. Die Dunkelheit des Zimmers wurde nur durch das fahle Licht der Straßenlaterne durchs Fenster durchbrochen.
Seine Finger glitten über die Tasten des Kästchens. Zögernd, dann entschlossen drückte er sie nacheinander. Erst geschah nichts. Doch dann – ein Widerstand, ein Klicken. Ein Ziehen, ein Sog, ohrenbetäubende Geräusche. Alles drehte sich.
Schimon erwachte in völliger Dunkelheit. Kälte umklammerte ihn. Er lag im tief verschneiten Wald. Sein Atem ging stoßweise, sein Körper zitterte. Es dauerte einige Sekunden, bis er verstand: Er hatte das Kästchen gedrückt, die Tasten hatten nachgegeben – und nun war er hier.
Er rappelte sich auf. Die Dunkelheit war beinahe erdrückend, nur der Schnee reflektierte das spärliche Licht der Nacht. Zittern lief durch seinen Körper. Dann entdeckte er etwas: Fußspuren, die sich durch den Schnee zogen. Ohne zu zögern, folgte er ihnen, stapfte durch die weiße Weite, während sein Atem in der frostigen Luft sichtbar wurde.
In der Ferne, mitten im dichten Wald, flackerte eine Feuerflamme und verbreitete Licht. Hoffnung regte sich in ihm. Er beschleunigte seine Schritte, kämpfte sich durch den Schnee. Doch je näher er kam, desto mehr erkannte er: Er war nicht allein.
Unauffällig bewegten sich sieben Gestalten vor der Hütte, beobachteten sie genau. Schimon duckte sich hinter einen Baum und lauschte. Die Kälte biss in seine Glieder, aber die Angst hielt ihn wachsam. Plötzlich hörte er eine sanfte, melodische Stimme durch die kalte Nacht dringen. Es war ein Lied:
„Lass die Herzen immer fröhlich und mit Dank erfüllet sein, denn der Vater in dem Himmel nennt uns seine Kinderlein.“
Er hörte, wie eine Tür aufgerissen wurde. „Seid ihr Deutsche?“ fragte eine raue Stimme. „Ja!“ antwortete eine männliche Stimme, die er nicht kannte. Schimon wagte sich ein Stück näher und sah nun klarer: Die sieben Männer waren abgemagerte Soldaten in zerrissenen Uniformen. Einer von ihnen trug Strohschuhe und schien kaum noch Kraft zu haben. Schimon spürte eine tiefe Beklemmung, als er in die Gesichter der Anwesenden blickte. Dann, als er durch die offene Tür der Hütte blickte, erkannte er ihn – einen Jungen, nicht älter als neun Jahre. Er war mager, sein Gesicht war von schrecklichen Ausschlägen gezeichnet. Günter. Sein Vater.
Der Feldwebel trat vor, sein Blick ernst. „Wir dachten, das hier sei ein russischer Unterstand. Wir wollten ihn in die Luft sprengen und hatten bereits die Handgranaten in der Hand. Doch dann hörten wir das Singen…“ Seine Stimme wurde für einen Moment brüchig. „Es hat uns innehalten lassen. Dieses Lied… Es hat uns zurück gehalten, die Handgranaten zu werfen. Ohne es, wärt ihr jetzt nicht mehr am Leben.“
Schimon schnappte nach Luft, sein Herz schlug schneller. Der Junge, sein Vater, zitterte am ganzen Leib, klammerte sich an eine dünne Decke. Dies war keine bloße Geschichte mehr. Dies war seine Familie – und er war ein stummer Zeuge ihrer Verzweiflung.
Die Soldaten traten näher, erzählten, dass sie einen Weg über die Oder suchten. Herr Lontke, der erfahrene Waldarbeiter, trat vor und beschrieb ihnen eine Route. „Die Oder ist teilweise zugefroren. Wenn ihr hier durch das Wäldchen geht und euch am westlichen Flusslauf haltet, habt ihr eine Chance. Aber ihr müsst vorsichtig sein.“
Historischer Hintergrund
Im Januar 1945 erreichte die Rote Armee im Zuge der Weichsel-Oder-Operation den deutschen Osten. Schlesien wurde zum Schauplatz brutaler Kämpfe, während die Wehrmacht versuchte, den Vormarsch der sowjetischen Truppen zu verlangsamen. Besonders die Region um Brieg war von diesen Ereignissen betroffen. Die Stadt wurde stark umkämpft, und die deutsche Bevölkerung versuchte in Panik, vor der heranrückenden Front zu fliehen. Viele Zivilisten suchten Schutz in den umliegenden Wäldern oder versuchten, die zugefrorene Oder zu überqueren. Der Winter war hart, die Temperaturen lagen weit unter dem Gefrierpunkt. Flüchtende Soldaten und Zivilisten litten unter Hunger, Erschöpfung und der ständigen Angst vor Entdeckung.
Während sich die Wehrmacht auf dem Rückzug befand, gerieten viele versprengte Einheiten in ausweglose Situationen. Einige versuchten, sich durch die dichten Wälder Richtung Westen zu schlagen, andere versteckten sich in kleinen Hütten oder Gehöften. Der Druck der Roten Armee war unerbittlich, und für viele endete die Flucht tödlich.
Dieser historische Hintergrund bildet den realen Bezug für Schimons Zeitreise und zeigt, unter welchen extremen Bedingungen seine Vorfahren um ihr Überleben kämpften.
Fortsetzung folgt…