Der Vorsitzende einer Kampagne gegen Antisemitismus in Großbritannien spricht mit dem Chefinspektor. Bild: Kampagne gegen Antisemitismus (CAA)

Die jüdische Gemeinschaft in Großbritannien steht unter Druck. Eine alarmierende Studie der Campaign Against Antisemitism (CAA) zeigt, dass fast die Hälfte der britischen Juden ernsthaft darüber nachdenkt, das Land zu verlassen. Der 7. Oktober 2023 war eine Zäsur: Seither hat sich der Antisemitismus weltweit dramatisch verschärft. Doch während viele nur nach Deutschland oder Frankreich blicken, offenbart der Blick auf Großbritannien eine ebenso besorgniserregende Entwicklung. Was bedeutet das für die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft im Vereinigten Königreich?

Es gibt diese Momente, in denen ich mich frage, wie es so weit kommen konnte. Antisemitismus war nie verschwunden, aber was wir seit dem 7. Oktober erleben, ist eine neue Dimension. Und nein, es betrifft nicht nur Deutschland oder Frankreich. In Großbritannien zeigen die Zahlen der jüngsten CAA-Umfrage ein erschreckendes Bild: 50 % der britischen Juden haben in den letzten zwei Jahren darüber nachgedacht, das Land zu verlassen. Wer glaubt, das sei Panikmache, sollte sich die Hintergründe genauer anschauen.

Besonders betroffen sind junge Menschen: Ganze 67 % der 18- bis 24-jährigen britischen Juden spielen mit dem Gedanken, ihr Heimatland hinter sich zu lassen. Ein Land, das sie nicht mehr schützt. Ein Land, in dem sie nicht mehr willkommen sind. Eine traurige Erkenntnis: Weniger als 43 % der britischen Juden fühlen sich im Vereinigten Königreich überhaupt noch willkommen.

Ein Leben in Angst

58 % der britischen Juden verheimlichen mittlerweile bewusst ihre Identität aus Angst vor antisemitischer Gewalt oder Diskriminierung. An dieser Stelle möchte ich ergänzen, dass sich dieses Phänomen nicht allein auf Großbritannien beschränkt. Auch in Deutschland und anderen Ländern vermeiden es viele Juden, sich öffentlich als solche zu erkennen zu geben. Besonders in bestimmten Stadtteilen Berlins kann es lebensgefährlich sein, eine Kippa zu tragen oder offen jüdische Symbole zu zeigen. Das Gefühl, sich aus Sicherheitsgründen verstecken zu müssen, ist längst Teil der jüdischen Realität in Europa geworden.

Der Hauptgrund für diese Angst ist schnell gefunden: 76 % der britischen Juden sehen den dramatischen Anstieg des Antisemitismus seit dem 7. Oktober als Hauptursache für ihre Sorgen.

Nach dem Hamas-Massaker an 1.200 unschuldigen Israelis hätte man Solidarität erwarten können. Stattdessen gab es Demonstrationen, auf denen Parolen wie „From the river to the sea“ skandiert wurden. Wer bis dahin geglaubt hatte, solche Forderungen seien nur politische Rhetorik, wurde eines Besseren belehrt: Es ist ein offener Aufruf zur Vernichtung Israels.

Bedrohung von allen Seiten

Ein weiteres alarmierendes Ergebnis der Studie: 95 % der britischen Juden betrachten islamistische Extremisten als die größte Bedrohung. Doch nicht nur von dieser Seite kommt die Gefahr. 91 % sehen den Antisemitismus der extremen Linken als Problem, während 67 % auch die extreme Rechte als Bedrohung wahrnehmen. Judenhass ist also nicht nur eine Randerscheinung von Neonazis oder Islamisten, sondern hat sich tief in die Gesellschaft gefressen.

Und was machen die britischen Behörden? Weniger als 10 % der britischen Juden glauben, dass der Staat genug tut, um Antisemitismus zu bekämpfen. Ganze 84 % sind überzeugt, dass antisemitische Täter nicht konsequent verfolgt oder bestraft werden.

Auch Londons Bürgermeister Sadiq Khan steht in der Kritik: 85 % der britischen Juden sind unzufrieden mit seiner Arbeit für die jüdische Gemeinschaft seit dem 7. Oktober. Dass er sich schwertut, den Antisemitismus auf den Straßen Londons klar zu benennen und zu bekämpfen, bleibt nicht unbemerkt.

Die Berichterstattung über Israel ist in vielen Medien kritisch. Doch inwiefern trägt sie dazu bei, dass Antisemitismus wächst? 92 % der britischen Juden sind der Meinung, dass die voreingenommene Medienberichterstattung über Israel zur Verfolgung von Juden in Großbritannien beiträgt. In anderen Worten: Wer Israel permanent als Aggressor darstellt, nimmt in Kauf, dass Juden weltweit zur Zielscheibe werden.

Der Exodus beginnt

Die Zahlen sprechen für sich: Immer mehr britische Juden sehen für sich keine Zukunft mehr in ihrem Heimatland. Sie denken darüber nach, nach Israel auszuwandern. Und ganz ehrlich? Ich kann es ihnen nicht verübeln. Wenn ein Staat nicht in der Lage ist, seine jüdische Bevölkerung zu schützen, dann liegt es nahe, dorthin zu gehen, wo man sicher ist.

Die jüdische Geschichte ist geprägt von Flucht und Vertreibung. Immer wieder mussten Juden ihre Heimat verlassen, weil Antisemitismus zur Staatsdoktrin wurde oder die Gesellschaft sie nicht mehr wollte. Doch dass es 2025 wieder so weit ist, dass sich Juden in einem westlichen Land nicht mehr sicher fühlen, ist ein Skandal.

Die Entwicklungen in Großbritannien sind kein isoliertes Problem. Was dort passiert, passiert auch anderswo. Wenn wir über unseren Tellerrand hinausschauen, dann müssen wir erkennen: Der Antisemitismus ist global auf dem Vormarsch.

Die entscheidende Frage ist: Wann zieht die Gesellschaft die rote Linie? Wann sagen Politiker, Medien und die Bevölkerung entschieden: „Genug ist genug“?

Denn wenn es soweit kommt, dass sich Juden aus Angst nicht mehr sicher fühlen, dann ist das nicht nur ein jüdisches Problem. Dann ist es ein Problem für uns alle.

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Von Peter Winkler

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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