Episode 8: Erinnerungen und Verluste – Schimons Reise in die bewegte Vergangenheit seiner Familie

Oswald nahm den Brief wieder in die Hand und las mit fester Stimme den nächsten Abschnitt vor:

„Es wurde ein Rundschreiben an alle Apotheken und Drogerien geschickt, dass diesem ‚Judenbengel‘ niemand etwas abkaufen solle. Mein Umsatz wurde durch dieses Treiben auf zwei Drittel gekürzt, sodass ich noch ein Drittel Umsatz hatte. Ich musste notgedrungen mein Hausgrundstück und dann später mein sehr gut funktionierendes Geschäft für billiges Geld verkaufen.“

Ein Schaudern lief durch Schimon, als er diese Worte hörte. Er konnte sich die Verzweiflung seines Großvaters Oswald lebhaft vorstellen – das Gefühl, alles zu verlieren, wofür man gearbeitet hatte.

Emilie schluckte schwer und schloss die Augen. „Ich habe diesen Tag nie vergessen, Oswald. Die Möbelwagen standen vor der Tür, und ich überlegte, wie die Kinder das verarbeiten würden, wenn wir jetzt alles hinter uns lassen mussten – nur wegen dieser Nazis. Günter, unser Jüngster, war noch so klein und sensibel. Erinnerst du dich?“

Oswald legte seine Hand auf ihre. „Ja, ich weiß, wie Günter überhaupt nicht verstehen konnte, warum wir unser schönes Zuhause verlassen mussten. Aber wir hatten keine Wahl. Ich danke Gott, dass uns Fred Sikora in Schieben aufgenommen hat. Das war ein Segen. Auch die Arbeitsstelle bei Schonaths war eine Gebetserhörung.“

Emilie sah ihn mit sanftem Blick an. „Weißt du, dass es für Erika die beste Lösung war, ihre Lehre als Industriekauffrau bei Schonaths fertig machen zu können?“

Oswald nickte, ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Natürlich weiß ich das. Ich bin doch mit Erika jedes Wochenende von Uhlstädt nach Schieben mit dem Zug nach Hause gefahren.“

Für einen Moment lag Wärme in der Erinnerung. Doch Schimon spürte, wie sich seine Kehle enger zog. Diese Geschichten, die er bisher nur bruchstückhaft gehört hatte, wurden in diesem Moment lebendig. Er sah vor seinem inneren Auge die weinenden Kinder, die ratlosen Eltern, die schlaflosen Nächte. Er spürte den Schmerz des Verlusts, aber auch die unerschütterliche Stärke seiner Großeltern.

Oswalds Stimme wurde härter, als er den nächsten Absatz vorlas:

„Die Gestapo entschloss sich, mich sofort Frontsoldat werden zu lassen, obwohl ich sechs unmündige Kinder hatte und das Gesetz damals lautete, dass Familienväter mit so vielen Kindern vom Frontdienst fernbleiben sollten.“

„Und doch haben sie dich eingezogen,“ flüsterte Emilie, ihre Stimme zitterte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe so oft gedacht, ich werde dich nie wiedersehen. Aber Gott hat dich bewahrt, Oswald.“

Oswald hielt inne, sah sie lange an, bevor er mit sanfter Stimme antwortete: „Es waren deine Gebete, Emilie. Ich wusste, dass du zu Hause für mich betest. Das hat mich durchhalten lassen. Deine Briefe waren mein Halt.“

Eine einzelne Träne lief Emilie über die Wange. Ihre Hände umklammerten die seinen. „Aber unseren Sohn Helmut hat Gott nicht bewahrt. Er musste in diesem Krieg, den Hitler angezettelt hat, fallen.“

Oswald atmete tief durch. Sein Blick war fest, aber voller Mitgefühl. „Emilie, so darfst du nicht reden. Daran ist nicht Gott schuld, sondern diese Nazis. Sie haben uns auch unseren Sohn genommen.“ Seine Stimme klang tröstend, doch zugleich bestimmt.

Ein Moment des Schweigens folgte, bevor Oswald den Brief weiterlas.

„Im Dezember 1945 wurde ich aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen und kehrte nach Schwabbach zurück. Ich brachte nur einen Karton Lumpen mit.“

Emilie lächelte schwach. „Aber das hat uns nicht aufgehalten, Oswald. Wir haben neu angefangen. Wir hatten nichts, aber wir hatten einander. Und liebe Geschwister, wie Ruth Zimmann und Familie Scheifele, die uns geholfen haben.“

Oswald nickte. „Ja. Und heute, Emilie, haben wir eine Vision vom Herrn. Dieses Haus, das wir bauen, wird ein Ort des Friedens. Es wird ein Zuhause für jene, die keins mehr haben. Ich glaube, Gott wird uns den Weg ebnen.“

Die beiden saßen einen Moment schweigend da, ihre Hände fest ineinandergelegt. Dann las Oswald die letzten Zeilen des Briefes:

„Bitte sagen Sie mir nach bestem Wissen, ob es einen Zweck hat, mein Recht zu suchen. Rückporto anbei!“

Emilie betrachtete ihn lange. „Du hast das gut geschrieben, Oswald. Es ist ehrlich und alles ist darin enthalten. Es zeigt, was wir durchgemacht haben, aber auch, was uns genommen wurde.“

Schimon wischte sich über die Augen. Die Geschichte, die er gerade erlebt hatte, war mehr als nur eine Erinnerung – sie war ein Vermächtnis. Zum ersten Mal verstand er wirklich, was seine Großeltern durchgestanden hatten. Ihre Entschlossenheit, ihre Liebe und ihr unerschütterlicher Glaube waren ein Erbe, das er nun besser zu würdigen wusste.

Oswald faltete den Brief vorsichtig zusammen und legte ihn in die Mappe vor sich. „Ich hoffe, dass uns der Anwalt Dr. Hermann Göckeritz in Stuttgart helfen wird, Emilie. Aber egal, was geschieht, wir bauen dieses Haus. Es ist unser Auftrag von Gott.“

Emilie drückte seine Hand sanft. „Das ist ein guter Brief. Du hast ihn ausführlich genug geschrieben.“

Plötzlich bemerkte Schimon, wie die Szene um ihn herum zu verblassen begann. Die Stimmen wurden leiser, das leise Rauschen verstärkte sich. Ein Gefühl des Ziehens durchströmte ihn, als würde er aus der Welt herausgezogen.

Dann wurde alles dunkel.

Er öffnete die Augen. Das laute Rauschen war verklungen, und er saß wieder in seinem Arbeitszimmer. Vor ihm lag das Kästchen auf dem Tisch. Seine Hände zitterten, und er fühlte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Reise war vorbei, doch die Eindrücke blieben. Was er gesehen und gehört hatte, war nicht nur eine Geschichte – es war ein Geschenk. Ein Band zu seiner Vergangenheit, zu seinen Wurzeln und zu den Menschen, die ihm gezeigt hatten, was es bedeutet, mit Mut und unerschütterlichem Glauben zu leben.

Langsam legte er das Kästchen zurück in den Schrank, verschloss die Tür und legte sich ins Bett. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Noch lange dachte er an Oswalds Worte, an Emilies Lächeln und an die Wärme, die trotz aller Schwierigkeiten in ihrem Zuhause geherrscht hatte.

Dieses Gefühl begleitete ihn bis zum Morgengrauen. Fortsetzung folgt…

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