10.12.1932 – Nobelpreise in Stockholm, Verfassung für Siam und die Genfer Erklärung
Es ist ein Samstag im Advent, dieser 10. Dezember 1932. Wenn wir heute auf dieses Datum zurückblicken, fühlt es sich an, als würden wir einen tiefen Atemzug tun, kurz bevor man unter Wasser getaucht wird. Die Welt scheint sich für einen flüchtigen Moment noch einmal in ihre schönste Robe zu werfen, sie feiert den Geist, den Fortschritt und die Diplomatie. Doch wer genau hinhört, vernimmt unter dem Klirren der Sektgläser und dem Rascheln der Verträge bereits das leise, bedrohliche Grollen, das den Untergang einer Epoche ankündigt. Es ist ein Tag der extremen Kontraste, an dem das Licht der Aufklärung in Stockholm hell erstrahlt, während sich in den deutschen Gassen und Hörsälen bereits jene Schatten ausbreiten, die bald alles verschlucken werden. Ich nehme Dich heute mit in diese seltsame Zwischenzeit, in der die Hoffnung auf Demokratie in Fernost aufblüht, während sie im Herzen Europas leise zu sterben beginnt.
Der Glanz der Weltbühne und ein demokratischer Aufbruch
Beginnen wir dort, wo die Welt an diesem Samstag noch in Ordnung zu sein scheint, ja fast schon märchenhaft wirkt. In Stockholm findet, wie in jedem Jahr am Todestag Alfred Nobels, die feierliche Zeremonie der Nobelpreisverleihung statt. Man kann sich die Szenerie bildhaft vorstellen: Die schwedische Königsfamilie in großer Garderobe, der Konzertsaal erfüllt von klassischer Musik und dem Duft frischer Blumen. Hier wird der menschliche Geist gefeiert, die Zivilisation in ihrer reinsten Form. Geehrt werden Männer wie der Chemiker Irving Langmuir, der uns die Welt der Oberflächenchemie erschloss, oder die britischen Mediziner Sherrington und Adrian, die das Geheimnis unserer Nervenzellen entschlüsselten. Auch die Literatur kommt nicht zu kurz, John Galsworthy wird für seine epische Erzählkunst ausgezeichnet. Es ist ein Moment, der uns vorgaukelt, dass Bildung, Forschung und Kultur die einzigen Währungen sind, die auf diesem Planeten zählen.
Fast zeitgleich, tausende Kilometer entfernt, geschieht in Siam, dem heutigen Thailand, etwas Bemerkenswertes, das gut in dieses Bild des Fortschritts passt. König Prajadhipok unterzeichnet die erste permanente Verfassung des Landes. Ein absoluter Herrscher gibt freiwillig Macht ab, um seinem Volk den Weg in eine konstitutionelle Monarchie zu ebnen. Es ist ein friedlicher Übergang, ein vorsichtiger Schritt hin zur Demokratie in Asien. Wenn man nur diese beiden Ereignisse betrachtet – Stockholm und Bangkok – könnte man meinen, die Menschheit sei im Dezember 1932 auf einem guten Weg. Doch diese globale Perspektive ist trügerisch, sie ist wie ein schöner Vorhang, der vor einer brennenden Bühne hängt. Denn während die Weltpresse diese zivilisatorischen Meilensteine feiert, wird in Europa das Fundament für den kommenden Krieg gegossen.
Ein diplomatischer Sieg mit fatalem Beigeschmack
Der Blick wandert zurück nach Europa, in die Schweiz. In Genf sitzen an diesem Wochenende die Vertreter der Großmächte zusammen. Es geht um die Abrüstungskonferenz, doch was dort verhandelt wird, klingt heute wie ein Hohn der Geschichte. Die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien verständigen sich auf eine Erklärung, die dem Deutschen Reich die „Gleichberechtigung“ in Rüstungsfragen zugesteht. Für die Weimarer Republik, geführt vom kurzzeitigen Reichskanzler Kurt von Schleicher, fühlt sich das an diesem 10. Dezember wie ein gewaltiger diplomatischer Sieg an. Endlich ist man wieder wer, endlich sind die Fesseln von Versailles gelockert. Man glaubt, durch dieses Zugeständnis den radikalen Kräften im eigenen Land den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Es ist eine tragische Ironie, die mir fast das Herz zuschnürt, wenn ich darüber nachdenke. Die Diplomaten in Genf glaubten, den Frieden zu sichern, indem sie Deutschland entgegenkamen. In Wahrheit aber lieferten sie an diesem Tag genau das Werkzeug, nach dem die Nationalsozialisten lechzten. Diese „Gleichberechtigung“ war der Freifahrtschein für die massive Aufrüstung, die nur wenige Monate später beginnen würde. Während man sich in den Teppich-Etagen von Genf die Hände schüttelte und sich gegenseitig zu diesem Kompromiss gratulierte, ahnte niemand – oder wollte niemand ahnen –, dass man gerade die Lunte an das Pulverfass gelegt hatte. Es zeigt uns schmerzhaft, wie blind politische Taktik sein kann, wenn sie das Wesen des Gegenübers verkennt. Man verhandelte mit einem Deutschland der Diplomaten, übersah aber das Deutschland, das bereits auf der Straße marschierte.
Das Unbehagen in der Kultur und die dunklen Vorboten
Und hier kommen wir zu dem Punkt, der mich persönlich am meisten berührt und den man in den Geschichtsbüchern oft nur zwischen den Zeilen findet. Während in Stockholm der Geist geehrt wird, wird er in Deutschland bereits mit Füßen getreten. Es gibt an diesem 10. Dezember zwar keine großen staatlichen Pogrome, keine brennenden Synagogen – noch nicht. Aber wer die jüdischen Zeitungen jener Tage liest, spürt das kalte Entsetzen, das sich breit macht. Redakteure warnen eindringlich vor einer „Radikalisierung“, die sich wie ein feuchter Nebel über das Land legt. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens dokumentiert genau in diesen Wochen eine Welle von Hass, die nicht von oben verordnet, sondern von unten gewachsen ist.
Besonders an den Universitäten, jenen Orten, die eigentlich dem Geist von Stockholm verpflichtet sein sollten, herrscht Terror. Jüdische Studenten werden aus Bibliotheken gedrängt, Vorlesungen jüdischer Professoren werden von braunen Horden gesprengt. Das ist die Realität dieses Samstags: Ein jüdischer Familienvater in Berlin liest vielleicht in der Zeitung von den Nobelpreisen und der Genfer Erklärung, doch wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er die SA-Trupps, die vor den Geschäften stehen. Er spürt die Blicke, die Feindseligkeit der Nachbarn, die sich langsam aber sicher von ihm abwenden. Es ist dieses „Unbehagen in der Kultur“, diese greifbare Angst vor dem Sturm, während die offizielle Welt noch so tut, als sei es windstill. Diese Diskrepanz zwischen dem feierlichen Glanz der Weltbühne und der dunklen, hasserfüllten Realität im deutschen Alltag macht den 10. Dezember 1932 zu einem so beklemmenden Datum.
Wie nimmst Du solche historischen Momente wahr, in denen Schein und Sein so weit auseinanderklaffen? Glaubst Du, wir haben heute ein besseres Gespür für diese leisen Warnsignale, bevor sie zu lautem Lärm werden? Ich freue mich sehr auf Deine Gedanken dazu in den Kommentaren.
Euer Schimon
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