Ein vergilbter, gefalteter Brief, datiert auf den 29. März 1954. Die brüchigen Kanten zeugten von den Jahren, die vergangen waren. Es war der Brief von Hans Schonath an Oswald Winkler. Bild: Peter Winkler

Schimon kam nach seinem Spaziergang nach Hause, noch immer gefangen in den Eindrücken seiner Zeitreise. Die frische Abendluft hatte seine Gedanken geordnet, und jetzt wusste er: Er musste tiefer in die Vergangenheit eintauchen. Der Koffer war der Schlüssel – der Zugang zu einer Geschichte, die es zu verstehen galt.

Dany war noch nicht zurück. Vermutlich war sie länger als geplant bei Rosalie geblieben. Die unerwartete Ruhe kam ihm gelegen. Ohne Ablenkung konnte er sich voll und ganz den Unterlagen widmen. Er zog seine Jacke aus, stellte ein Glas Wasser auf den Tisch und öffnete erneut den schweren Aluminiumkoffer. Der vertraute Geruch von altem Papier stieg ihm in die Nase. Bedächtig begann er, die Schriftstücke zu ordnen. Sein Blick fiel auf einen alten Flyer der Holzwarenfabrik Schonath. Die darauf abgebildete Zeichnung zeigte exakt die Fabrik, die er während seiner Reise gesehen hatte. Ein weiterer Beweis, dass seine Erlebnisse real gewesen waren.

Doch es war ein bestimmtes Dokument, das er suchte. Dann fand er es: Ein vergilbter, gefalteter Brief, datiert auf den 29. März 1954. Die brüchigen Kanten zeugten von den Jahren, die vergangen waren. Es war der Brief von Hans Schonath an Oswald Winkler. Vorsichtig glättete Schimon das Papier und begann zu lesen:

Kupferzell Kr. Öhringen, den 29. März 1954

Herrn Oswald Winkler, Handelsvertreter in Schwabbach b. Öhringen

Sehr geehrter Herr Winkler,

Sie fragten mich an, ob ich bereit wäre, Ihnen zu bezeugen, was ich von Ihnen weiß, als Sie im Jahre 1939 Ihr Versandgeschäft und Villengrundstück mit Geschäftshaus verkauften.

Soweit ich es noch weiß, tue ich Ihnen gern diesen Dienst, zumal Sie ja bei mir im Jahre 1940 und Anfang 1941 in meinem damals eigenen Sägewerk und Holzwarenfabrik in Uhlstädt/Thür. als Werkführer tätig waren.

Bevor Sie zu mir als solcher kamen, verkehrten Sie ja des öfteren in meinem Hause als Freund, darum kenne ich auch Ihre Verhältnisse. Ich weiß, dass Sie ein starker Gegner der nationalen Bewegung waren, indem Sie selbst alle Verbände der damaligen Bewegung haßten. Sie hatten sich durch das Fernhalten Ihrer Kinder von den Jugendbewegungen wohl bittere Feinde gemacht, und weil Sie noch dazu einen Juden als Fabrikanten Ihrer Erzeugnisse hatten, so wurden Sie in Ihrem Geschäft und Familie verfolgt und mit hohen Strafen belegt. Ich weiß, dass Sie kurz vor dem Konzentrationslager standen, wenn nicht eine höhere Macht Sie vor diesem Schlimmsten bewahrt hätte.

Ich weiß noch, wie von Seiten des nationalen Apothekerverbandes und Drogerie-Verbandes an alle Apotheker und Drogerie-Inhaber in den Gauen Deutschlands ein Rundschreiben gesandt wurde mit dem Vermerk, von Ihnen keine Waren mehr zu beziehen, weil Sie staatsfeindlich eingestellt sind und mit Juden zusammenhalten.

Ihre christlich korrekte Einstellung damals veranlasste wohl auch hauptsächlich Herrn Saukel, Sie zu unterdrücken und zu verfolgen.

Sie verkauften notgedrungen wohl im Jahre 1939 Ihr mächtiges Versandgeschäft und Ihr Villengrundstück sehr billig. Desgleichen verkauften Sie auch Ihr schönes Geschäftshaus mit dem Villengrundstück in einem Zug, weil Sie wollten, in Schlesien in Ihrer eigentlichen Heimat sich ein Landhaus kaufen.

Ich weiß, Sie hatten damals ein Nothaus in Schieben bei Camburg/Thür. bezogen und Ihre Möbel und übrigen Geräte in Bad Kösen bei einem Spediteur untergestellt.

Ich habe Sie 1939 mit Freuden als Werkführer angestellt und bedauerte es sehr, als Sie dann in Schlesien ein Landhaus gekauft hatten und wieder von mir am 1.4.41 gingen, zumal ich einen guten Mitarbeiter und Freund durch Sie verlor.

Inzwischen habe ich ja auch notgedrungen mein schönes Anwesen mit Fabrik und Sägewerk in Uhlstädt verkauft und mich hier in Kupferzell angesiedelt und zwar noch im Jahre 1942.

Ich hoffe, Ihnen mit diesem Brief dienen zu können und grüße Sie recht freundlichst.

Ihr Hans Schonath sen.

mech. Holzdreherei Kupferzell/Württ.

Schimon legte den Brief vorsichtig beiseite. Die Worte brannten sich in sein Bewusstsein. Hier stand es schwarz auf weiß: Oswald war wegen seiner christlichen Werte, seiner Ablehnung der NS-Ideologie und seiner geschäftlichen Verbindungen zu Juden verfolgt worden. Sein Unternehmen, sein Besitz – alles hatte er aufgegeben, um sich und seine Familie zu schützen. Ein einziger Fehler hätte sein Leben gekostet. Und doch war er standhaft geblieben.

Schimon lehnte sich zurück. Er kannte die Geschichte seines Großvaters, doch sie hatte sich für ihn nie so greifbar angefühlt wie jetzt. Oswald war ein Mann mit Prinzipien gewesen, ein Mann, der bereit war, alles für das Richtige zu riskieren.

Er legte den Brief zurück in den Koffer und schloss den Deckel. Die Dokumente waren mehr als nur alte Schriftstücke – sie waren Zeugnisse eines gelebten Lebens, eines unermüdlichen Widerstandes.

Doch eine Frage brannte in ihm: Was, wenn er mehr herausfinden könnte? Wenn er zurückkehren und die Ereignisse mit eigenen Augen sehen könnte? Der Gedanke ließ ihn nicht los. Als später seine Frau nach Hause kam, versuchte er, normal zu wirken. Doch sein Kopf war voller Fragen, voller Möglichkeiten.

In der Nacht konnte er nicht schlafen. Unruhig wälzte er sich im Bett, die Gedanken kreisten um den Brief, um die Wahrheit, die er entdeckt hatte. Doch noch etwas anderes nagte an ihm: das Geheimnis, das er nun vor Dany hatte. Bisher hatten sie immer alles miteinander geteilt, ohne Lügen, ohne Auslassungen. Doch jetzt war alles anders. Ein schlechtes Gewissen breitete sich in ihm aus, ließ seine Brust eng werden. Aber was sollte er tun? Er sah keine andere Möglichkeit. Sie würde es nicht verstehen, würde ihm aus Sorge davon abraten, weiter in diese Geschichte einzutauchen. Er musste es für sich behalten. Noch eine Weile lag er wach, bis er schließlich aufstand, das geheimnisvolle Kästchen aus dem Schrank nahm und sich an den Schreibtisch setzte. Sein Herz schlug schneller, als er seinen Daumen auf das Metallplättchen legte. Ein leises Vibrieren durchlief seine Fingerspitzen.

Er versuchte, eine der Tasten zu drücken, doch sie blieb starr und unbeweglich. Mit wachsender Ungeduld glitten seine Finger über die Oberfläche des Geräts, während er eine weitere Taste testete – erneut ohne Erfolg. Ein leises Knirschen erklang, als er eine dritte Taste mit Nachdruck drückte, doch sie gab nicht nach. Frustriert schloss er die Augen und atmete tief durch. Dann, fast wider Erwarten, fand er eine Taste, die unter seinem Finger nachgab. Ein kaum hörbares Klicken durchbrach die Stille, gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren Summen.

Ein tiefer Sog ergriff ihn – und die Welt um ihn herum verschwamm.

Beitrag teilen

Von Peter Winkler

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert