16.12.1932 – Zwischen Kaufhausglanz und dunklen Parolen
Berlin zeigt sich an diesem Freitag von seiner spröden Seite. Es ist trocken, kein Regen fällt vom Himmel, doch die Kälte beißt umso gnadenloser. Das Thermometer klettert kaum über den Gefrierpunkt, maximal fünf Grad werden in Dahlem gemessen, und wer heute Morgen zur Arbeit eilte – oder zum Stempeln –, der zog den Mantel fest um sich. Die Luft ist klar, fast schneidend, passend zur politischen Schärfe, die an diesem 16. Dezember durch die Hauptstadt weht. Denn während die Berliner bibbern, hallt noch das Echo des Vorabends durch die Gassen und Wohnzimmer. Reichskanzler Kurt von Schleicher hat gestern Abend im Rundfunk gesprochen, und heute Morgen ist seine Rede das beherrschende Thema in den Straßenbahnen und Büros. Die Zeitungen, wie etwa die Bautzener Nachrichten, analysieren heute haarklein, wie der „soziale General“ um Rückhalt ringt. Schleicher versucht den Spagat: Er will Arbeit beschaffen und sucht den Schulterschluss mit den Gewerkschaften, doch er spürt den heißen Atem seiner Gegner im Nacken.
Herrenclub gegen Rundfunkwelle
Einer dieser Gegner tritt heute selbst ins Rampenlicht, allerdings nicht vor das Volk am Radioempfänger, sondern in den exklusiven Zirkel des Berliner Herrenclubs. Franz von Papen, der geschasste Vorgänger und Intrigant par excellence, hält dort heute eine Grundsatzrede, die es in sich hat. Er entwirft die Vision eines „Neuen Staates“, autoritär, elitär und ausdrücklich gegen das parlamentarische System gerichtet, das er so verachtet. Während Schleicher also versucht, die Wogen zu glätten und eine breite Front zu bauen, sägt Papen im Hintergrund bereits an den Pfeilern der Republik. Es ist ein Duell um die Seele Deutschlands: hier der taktische General, der die Spaltung der Nazis hofft, dort der konservative Adlige, der die Demokratie endgültig beerdigen will. Und die Nazis selbst? Joseph Goebbels sitzt an diesem Freitag über seinem Tagebuch und kommentiert Schleichers Rundfunkrede mit der ihm eigenen Mischung aus Verachtung und strategischer Analyse. Er wittert die Schwäche des Kanzlers, trotz der eigenen Finanznot der NSDAP. Währenddessen debattiert man im Preußischen Landtag über Banalitäten des „Zwickel-Erlasses“, jener Verordnung für vorschriftsmäßige Badebekleidung, zu der der Abgeordnete Alex Möller heute spricht – eine bizarre Szene: Das Land steht am Abgrund, und das Parlament streitet über Badehosen, während die Demokratie von rechts ausgehöhlt wird.
Katastrophen und Fortschritt in der weiten Welt
Der Blick in die Weltpresse bietet heute kaum Trost, eher schockierende Bilder. Aus Tokio erreichen uns entsetzliche Nachrichten: Das renommierte Shirokiya-Kaufhaus steht in Flammen. Es ist ein verheerender Großbrand, der in der japanischen Hauptstadt zahlreiche Opfer fordert und die Verletzlichkeit der modernen Konsumtempel drastisch vor Augen führt. Ein seltsamer Kontrast dazu kommt aus Südamerika: Während in Uruguay heute das Frauenwahlrecht gesetzlich verankert wird – ein Meilenstein der Emanzipation –, greift die Regierung in Argentinien hart durch. In Buenos Aires herrscht Ausnahmezustand, prominente Oppositionelle wie der ehemalige Präsident Yrigoyen werden verhaftet. Die Welt scheint an diesem 16. Dezember zwischen Fortschritt und brutaler Repression zu schwanken, ein Spiegelbild der Unsicherheit, die auch Deutschland im Griff hat.
Die trügerische Ruhe im Angesicht des Hasses
Zurück in Deutschland, wo die jüdische Gemeinschaft diesen Freitag mit gemischten Gefühlen begeht. Die Nachricht vom Brand des japanischen Kaufhauses trifft hier auf eine besondere Resonanz, sind doch viele der großen deutschen Warenhäuser – Tietz, Wertheim, Jandorf – in jüdischem Besitz und zugleich Zielscheibe nationalsozialistischer Hetze. Trotz der offensichtlichen Finanzkrise der NSDAP, die ihre SA-Horden kaum noch bezahlen kann, ist das geistige Gift längst in die Mitte der Gesellschaft gesickert. Das Buch „Mein Kampf“ ist zwar teuer, aber es liegt in immer mehr Wohnstuben, wird in Leihbüchereien vorbestellt und als politische Offenbarung gehandelt. Die darin propagierte Rassenlehre dient dem verunsicherten Mittelstand als Erklärungsschablone für den eigenen Abstieg. Man neidet den Juden nicht nur den vermeintlichen wirtschaftlichen Erfolg der großen Kaufhäuser, sondern projiziert allen Hass auf sie. Siegfried Kracauer veröffentlicht genau heute in der Frankfurter Zeitung einen Text, der diese nervöse, entfremdete Stimmung der Zeit perfekt einfängt. Doch die Tragik liegt in der Wahrnehmung: Viele Juden deuten die Pleite der NSDAP und Schleichers Querfront-Bemühungen als Zeichen der Entwarnung. Man glaubt, das Schlimmste sei überstanden, die Nazis seien ein vorübergehendes Phänomen, das an der Realität zerschellt ist. Dass Papen im Herrenclub gerade den Weg in die Diktatur ebnet und dass der Hass auf der Straße unabhängig vom Kontostand der Parteizentrale weitergärt, wollen oder können viele noch nicht sehen. Die Koffer bleiben ausgepackt, die Hoffnung auf den deutschen Rechtsstaat ist stärker als die Angst vor dem Vulgären.
Wenn ihr heute die Nachrichten aus Tokio, Buenos Aires und Berlin vergleicht: Wirkt die Welt von 1932 auf euch global vernetzter und „gleichzeitiger“ in ihren Krisen, als man es für die damalige Zeit ohne Internet vermuten würde?
Euer Schimon
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