25.12.1932 – Aufruf der Reichsregierung und Kampagne gegen Bernhard Weiß
Ich sitze heute an meinem Schreibtisch und halte eine digitale Kopie des Reichsbote vom 25. Dezember 1932 in den Händen. Wenn ich diese vergilbten Zeilen lese, fühle ich mich wie ein Beobachter, der aus der sicheren Distanz der Gegenwart in eine Epoche blickt, die von tiefster Verunsicherung und gleichzeitigem Hoffen geprägt war. Es ist ein seltsames Gefühl, diese Berichte zu studieren, während ich genau weiß, welche dunklen Jahre auf diesen Winter folgen sollten. Damals kostete die Zeitung gerade einmal zehn Pfennig. Draußen herrschte an diesem ersten Weihnachtsfeiertag ein fast schon frühlingshaftes Wetter, das in krassem Gegensatz zur wirtschaftlichen Kälte im Land stand. In London blühten laut den Meldungen sogar die Blumen, und hierzulande wehte ein milder Westwind durch die Straßen Berlins, der den Schnee längst vertrieben hatte. Doch die Wärme der Luft konnte die Not nicht lindern, die in den Zeitungen ganz offen als Notweihnachten bezeichnet wurde. Es ist erschütternd zu lesen, wie Professor Hermann Wolfgang Beyer in seinem Leitartikel die bange Frage stellt, ob es in einer so bitterernsten Zeit überhaupt noch einen wahren Frieden geben kann. Er beschreibt, wie die Weihnachtsfeier in vielen Häusern nur noch eine Jugenderinnerung ist, während die harte Realität der Gegenwart die Herzen verhärtet hat.
Der Geist des Frontsoldatentums und die Not der Straße
Wenn ich mir das politische Panorama jener Tage anschaue, springt mir sofort der große Aufruf der Reichsregierung ins Auge. Reichspräsident von Hindenburg und Reichskanzler von Schleicher wandten sich gemeinsam an das deutsche Volk, um eine gewaltige Hilfsaktion für die notleidende Jugend einzuleiten. Es ist bezeichnend, dass Schleicher dabei Worte wie den Geist des Frontsoldatentums wählte, um eine Volksgemeinschaft zu beschwören, die über den tiefen politischen Gräben stehen sollte. Er versuchte, die jungen Menschen mit der Idee des treuen Dienstes am Vaterland zu begeistern, doch die Realität sah für die meisten trostlos aus. Das Internationale Arbeitsamt in Genf meldete damals rund dreißig Millionen Arbeitslose weltweit, und auch in Deutschland standen zahllose Familien mit völlig leeren Händen vor den brennenden Kerzen. Während die Regierung nach Einheit rief, brodelte es auch an den internationalen Grenzen. In Dalmatien kam es zu einem gefährlichen Streit zwischen Südslawien und Italien, nachdem dort sämtliche venezianischen Löwendenkmäler zerstört worden waren. Die Zeitungen sprachen besorgt von einer glimmenden Zündschnur und der ständigen Angst vor einem neuen Konflikt, der das Pulverfass Europa jederzeit zur Entzündung bringen könnte. Es ist dieses Gefühl der ständigen, existenziellen Bedrohung, das aus jeder Zeile spricht, selbst wenn man krampfhaft versucht, die feierliche Stimmung der Christnacht aufrechtzuerhalten.
Die Flucht in das Ozeanwunder und die Schatten des Alexanderplatzes
Um der harten Wirklichkeit der Weltwirtschaftskrise wenigstens für ein paar Stunden zu entkommen, suchten die Menschen damals Zuflucht in den Berliner Lichtspielhäusern. Ich lese mit großem Interesse über das Filmwunder F.P. 1 antwortet nicht, das gerade in den Kinos gefeiert wurde. Mit Hans Albers in der Hauptrolle als Deanflieger Ellissen wurde hier die Vision einer gigantischen, schwimmenden Flugzeugstation im Atlantik besungen. Es war eine Flucht in die technische Euphorie und ein gewagter Traum von einer glanzvollen Zukunft, der die Zuschauer für einen Moment ihre Geldsorgen vergessen ließ. Wer es eher klassisch mochte, konnte im Staatstheater den ersten Teil von Goethes Faust besuchen oder sich im Radio Programme aus Berlin, Stettin oder Magdeburg anhören. Doch wie brüchig dieser Schein von Kultur und Normalität in Wahrheit war, zeigt mir ein kleiner, fast versteckter Bericht über einen Vorfall am Alexanderplatz. Dort wollte ein Polizist einen blinden Straßenhändler von seinem Platz vertreiben, woraufhin die Frau des Blinden den Beamten mit einem Stock so heftig angriff, dass er mit einer schweren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht werden musste. Diese Szene der nackten, rohen Verzweiflung auf den winterlichen Straßen verdeutlicht mir mehr als jeder lange Leitartikel, wie tief die Zerrissenheit der damaligen Gesellschaft tatsächlich war. Es gab den prunkvollen Lichterglanz in den Warenhäusern, aber direkt daneben tobte der tägliche, erbitterte Kampf um das schiere Überleben.
Das Gift der Ausgrenzung in einer christlichen Gazette
Was mich bei meiner heutigen Recherche jedoch am meisten erschreckt, ist die unterschwellige Bösartigkeit, die sich in den Texten dieser eigentlich christlich orientierten Zeitung verbirgt. Unter dem frommen Deckmantel von Glaube und Heimat findet sich eine Sprache der Ausgrenzung, die wir heute als unerträglich und gefährlich empfinden. In der Presseschau wird ganz unverblümt der Begriff jüdische Presse verwendet, um unliebsame Informationen als bloße Lügen und bösartige Machwerke zu diskreditieren. Es ist erschütternd zu sehen, wie dieser Antisemitismus damals bereits zum festen Bestandteil des journalistischen Tons gehörte und ganz selbstverständlich verbreitet wurde. Besonders deutlich wird dies an der systematischen medialen Demontage von Dr. Bernhard Weiß, dem jüdischen Vizepräsidenten der Berliner Polizei. Er wird als der Hauptschuldige einer angeblichen Korruptionswirtschaft dargestellt, und man versucht mit allen Mitteln, ihn moralisch völlig zu vernichten. Selbst die weihnachtliche Ruhe wird ideologisch aufgeladen, indem man warnend auf die gottlose Sozialdemokratie hinweist, die zeitgleich Kirchenaustrittsabende veranstaltete. Man erkennt in diesen alten Dokumenten den extrem schmalen Grat zwischen der christlichen Sehnsucht nach Liebe und dem tiefen Hass, der sich damals bereits überall in den Köpfen breitmachte. Wenn du heute diese Berichte aus einer Zeit liest, in der das Schicksal des ganzen Landes so ungewiss war, was glaubst du, welche Lehren wir für unsere eigene komplizierte Gegenwart daraus ziehen können?
Euer Schimon
Bild: Dr. Bernhard Weiß, 1930
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