Kalenderblatt

28.12.1932 – Milliardennot der Kommunen, das Notwerk der Jugend und die Teuerung des Überlebens

Wenn Du an diesem Mittwoch, dem 28. Dezember 1932, durch die Straßen Berlins oder einer der vielen kleinen brandenburgischen Gemeinden läufst, spürst Du sofort, dass die bleierne Schwere der Weihnachtstage noch nicht gewichen ist. Der Himmel hängt tief und grau über uns, und stellenweise kriecht ein dichter Nebel durch die Gassen, der nicht nur die Sicht nimmt, sondern auch symbolisch für die undurchsichtige Zukunft steht, auf die wir alle zuwanken. Es ist ein Tag, an dem die blanke Not in Zahlen gegossen wird, die so gigantisch sind, dass sie für den einfachen Arbeiter, der gerade überlegt, ob er sich den Silvesterkarpfen überhaupt leisten kann, kaum noch fassbar sind. Die Zeitungen sind heute voll von einer niederschmetternden Bilanz: Die deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände sitzen auf einem Schuldenberg von unfassbaren 11,3 Milliarden Reichsmark. Stell Dir vor, allein Berlin ächzt unter einer Last von über 1,2 Milliarden, und niemand weiß, wie die rasant steigenden Wohlfahrtskosten für die Millionen Arbeitslosen im kommenden Jahr gedeckt werden sollen. Die kommunalen Kassen sind so leer, dass mancherorts schon darüber diskutiert wird, ob man die Unterstützungssätze noch weiter kürzen muss, obwohl das Existenzminimum längst unterschritten ist. In dieser Atmosphäre wirkt der politische Betrieb in Berlin seltsam entrückt und beinahe gespenstisch. Man munkelt, dass der Reichstag vielleicht erst am 17. Januar wieder einberufen wird, weil die Regierung unter General von Schleicher Zeit gewinnen will und sogar die Nationalsozialisten darüber nachdenken, ein Misstrauensvotum vorerst zu blockieren. Es ist ein taktisches Spielchen auf dem Rücken derer, die draußen in der Kälte stehen und nicht wissen, wie sie den nächsten Monat überstehen sollen.

Die Last der Milliarden und ein Pflaster für die verlorene Jugend

Mitten in diese trostlose Stimmung platzt heute eine Nachricht, die wie ein verzweifelter Rettungsversuch des alten Reichspräsidenten von Hindenburg und der Regierung Schleicher wirkt. Mit großem Pomp wird das sogenannte Notwerk der deutschen Jugend verkündet. Es klingt auf dem Papier fast heroisch, wenn davon die Rede ist, die arbeitslose Jugend unter 25 Jahren in einer großen Gemeinschaftsaufgabe zusammenzufassen, um sie vor der Verwahrlosung zu schützen und ihre körperliche sowie sittliche Kraft zu erhalten. Doch wenn Du genau hinhörst, spürst Du die Hilflosigkeit und die Angst der Mächtigen dahinter. Man will die jungen Männer und Frauen, die zu Hunderttausenden ohne jede Perspektive an den Straßenecken stehen, in Lager stecken, sie mit Sport und gemeinnütziger Arbeit beschäftigen und ihnen wenigstens eine warme Mahlzeit bieten. Das klingt vordergründig nach Fürsorge, aber es ist in Wahrheit der Versuch, den sozialen Sprengstoff von der Straße zu holen, bevor er in einer Revolution explodiert. Wie zynisch die Realität wirklich ist, zeigt sich im Kleingedruckten der Wirtschaftspolitik, die uns heute ebenfalls beschäftigt. Während für die Jugend Lager gebaut werden sollen, wird gleichzeitig eine Verordnung vorbereitet, die den Zwang zur Beimischung von Butter und Schmalz in die Margarine vorsieht. Was technisch klingt, ist ein Schlag ins Gesicht jeder armen Familie: Das Streichfett, das wichtigste Nahrungsmittel der Ärmsten, soll künstlich verteuert werden, nur um die Agrarlobby zu stützen. Es ist ein grotesker Tanz auf dem Vulkan, bei dem man den Hungernden das Fett vom Brot nimmt, um die Großbauern ruhigzustellen, während man der Jugend statt echter Arbeit nur Beschäftigungstherapie und Disziplin verordnet.

28.12.1932 – Regierungsnotstand, wirtschaftliche Not und radikale Parolen

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Politische Säuberungen und die Verzweiflung im Flammenmeer

Dass der Wind in Deutschland immer schärfer weht und die demokratische Luft merklich dünner wird, spüren wir an diesem Mittwoch auch fernab der großen Berliner Bühne. Aus dem Provinzial-Schulkollegium erreichen uns beunruhigende Nachrichten über eine politische Säuberungswelle, die wie ein Gift in unseren Alltag sickert. Es wird ganz offen berichtet, dass Beamte allein aus politischen Gründen abgebaut werden, und es trifft – wie so oft in diesen Tagen – vor allem die Sozialdemokraten. Die Personalveränderungen richten sich fast ausschließlich gegen die linke Seite des politischen Spektrums. Es ist ein schleichender Prozess, bei dem Gesinnung plötzlich mehr zählt als Kompetenz. Es lässt uns ahnen, dass die Gleichschaltung der Köpfe längst begonnen hat, bevor sie offiziell angeordnet wurde. Wie sehr die wirtschaftliche Verzweiflung mittlerweile jeden moralischen Kompass zerstört, zeigt ein schockierender Kriminalfall aus Görlitz, der heute die Runde macht. Der Hotelbesitzer Schönfeld hat sein eigenes Hotel Reichshof niederbrennen lassen, und zwar nicht aus politischem Hass, sondern aus purer, nackter Geldnot. Er heuerte einen Angestellten an, versprach ihm zwei Drittel der Versicherungssumme und ließ das Gebäude in Flammen aufgehen. Es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass Menschen ihre eigene Existenz abfackeln, in der Hoffnung, dass die Versicherung sie rettet. Währenddessen geschieht in Berlin-Lichtenberg eine wirkliche Tragödie: In der Wotanstraße sterben zwei kleine Kinder in einem Flammenmeer, weil die Mutter sie kurz allein lassen musste, um das Nötigste zu erledigen – ein stummes, grausames Zeugnis der elenden Wohnverhältnisse, in denen Sicherheit ein unbezahlbarer Luxus geworden ist. Auch das Unglück auf dem Chemnitzer Hauptbahnhof, wo im dichten Nebel zwei Lokomotiven zusammenstießen, passt in dieses Bild eines Tages, an dem jede Orientierung verloren gegangen scheint.

Träume auf der Leinwand und die bittere Kälte der Realität

Um diesem allgegenwärtigen Grau zu entfliehen, suchen viele von uns Zuflucht in den wenigen Stunden der Zerstreuung, die noch bleiben. Die Kammer-Lichtspiele in Birkenwerder locken heute Abend mit dem Film Die Tänzerin von Sanssouci. Für ein paar kostbare Groschen können wir Lil Dagover auf der Leinwand bewundern und uns in die Zeit Friedrichs des Großen träumen, weit weg von Schuldenbergen und Notverordnungen. Oder wir schauen uns an, wie Renate Müller in der Tonfilm-Komödie Wie sag ich’s meinem Mann? die Sorgen einfach weglächelt. Doch selbst in der Welt der Unterhaltung lauert die bittere Realität. Wer heute durch die Zeitung blättert, sieht die Anzeigen für lebende Karpfen zum Silvesterfest – ein Festmahl, das für so viele unerreichbar bleibt, während Möbelhäuser wie Gottlieb mit Schlafzimmern für 395 Mark werben, eine Summe, für die ein Arbeitsloser fast ein halbes Jahr lang überleben müsste. Auch die Schatten der Justiz verdunkeln den Tag: Der Fall des Justizrats Brodat, gegen den wegen Verdachts des Meineids ermittelt wird, sorgt für Tuscheln in den Cafés. In einer Zeit, in der jüdische Anwälte und Bürger zunehmend unter Druck geraten und von der rechten Presse argwöhnisch beobachtet werden, wiegt ein solcher Vorwurf doppelt schwer und wird sofort politisch instrumentalisiert. Und während wir vielleicht noch überlegen, ob wir uns das billige Rhein- und Mosel-Weine-Angebot für 80 Pfennig gönnen sollen, lesen wir von der unheimlichen SA-Mordaffäre in Dresden. Der SA-Mann Hensch wurde tot in einer Talsperre gefunden, ermordet von seinen eigenen Kameraden. Es ist ein düsteres Omen dafür, dass die Gewalt in den paramilitärischen Verbänden kein Gesetz mehr kennt und sich nun sogar gegen die eigenen Leute richtet. Wir gehen an diesem Abend zu Bett mit dem beklemmenden Gefühl, dass der Nebel da draußen nicht nur das Wetter ist, sondern ein Vorhang, hinter dem sich etwas unvorstellbar Dunkles zusammenbraut. Wenn Du heute die Wahl hättest: Würdest Du Deine letzten Groschen für eine Kinokarte ausgeben, um für zwei Stunden in Sanssouci zu träumen, oder würdest Du sie eisern sparen für das teurer gewordene Fett auf dem Brot, weil Du nicht weißt, was der Januar wirklich bringt? Schreib mir doch mal, wie Du Dich in dieser Kälte entscheiden würdest.

Euer Schimon


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Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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