Es war eine jener stillen, endlosen Nächte, in denen Gedanken schwerer wiegen als Schlaf. Schimon saß an seinem Schreibtisch, das warme Licht der Lampe zeichnete weiche Schatten an die Wände. Der Laptop vor ihm summte leise, ein beständiger Klang, der die Stille des Hauses nur noch unterstrich. Auf dem Bildschirm flackerten Bilder seiner Familie, Momentaufnahmen aus längst vergangenen Zeiten. Lachende Gesichter, Ausflüge an den Ebnisee, Geburtstagsfeiern – jedes Bild ein Fragment einer Geschichte, die es wert war, bewahrt zu werden.
Die Uhr an der Wand zeigte bereits halb eins. Schimon wusste, dass er ins Bett gehen sollte. Der morgige Tag versprach geschäftig zu werden, und sein Körper brauchte mindestens sechs Stunden Schlaf, um leistungsfähig zu sein. Doch er fand keine Ruhe. Immer wieder tauchten die Fotos der Gegenstände aus dem Haus seiner Eltern vor ihm auf, die er bei der Auflösung in den Familienchat gestellt hatte. Jeder konnte sich melden, wenn er ein Erinnerungsstück haben wollte. Und dann war da dieses Foto von dem Alukoffer seines Großvaters Oswald gewesen. Er erinnerte sich noch genau, wie dieser Koffer in seinen Besitz gelangt war.
Als das Haus seiner Eltern geräumt worden war und sie in eine Seniorenwohnung gezogen waren, hatte sein Vater Günter ihm den Koffer vermacht. „Er gehört dir“, hatte er nur gesagt, ohne ihn selbst je geöffnet zu haben. Jahrzehntelang hatte der Koffer im Keller seiner Eltern gestanden, ein unberührtes Relikt voller Geheimnisse. Möglicherweise hatte sein Vater ihn nie geöffnet und die Unterlagen sortiert, weil er grundsätzlich ein Problem damit hatte, alte Unterlagen zu entsorgen oder sich mit bestimmten Ereignissen der Vergangenheit konkret auseinanderzusetzen. Sein Vater hatte lediglich hinzugefügt, dass der Koffer persönliche Dinge von Oswald enthielt, war aber nie genauer darauf eingegangen.
Schimon erinnerte sich daran, wie er damals darum gebeten hatte, den Koffer zu bekommen. Seine Leidenschaft für die Familiengeschichte war tief verwurzelt, und er träumte schon lange davon, ein umfangreiches Familienarchiv anzulegen. Mit dem Versprechen, die Inhalte mit Bedacht und Respekt zu behandeln, hatte er den Koffer schließlich erhalten. Doch seitdem stand er unbeachtet in Schimons Garage, zwischen Kartons und anderen nicht mehr genutzten Dingen.
Jetzt war der Moment gekommen. Schimon stand auf, streckte sich kurz und griff nach dem Türöffner der Garage am Schlüsselbrett im Flur. Seine Frau Dany schlief schon längst. Seit einigen Jahren hatten sie getrennte Schlafzimmer – eine pragmatische Entscheidung, die es ihnen ermöglichte, einen ruhigen Schlaf zu finden, ohne den anderen zu stören. Leise öffnete er die Haustür und trat in die kühle Nacht hinaus. Der Weg zur Garage war vertraut, doch diese Nacht schien anders, fast bedeutungsvoll. Wilma, die kleine Hündin, folgte ihm und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz.
In der Garage stapelten sich Umzugskartons, alte Regale und vergessene Erinnerungsstücke. Die Unordnung hatte etwas Tröstliches und zugleich Bedrückendes. Er schob Kartons beiseite, wischte Spinnweben aus dem Weg, bis er schließlich den Alukoffer erblickte. Er wirkte unscheinbar, von einer dünnen Staubschicht bedeckt, doch allein sein Gewicht in Schimons Händen verlieh ihm eine fast greifbare Bedeutung. Mit einem alten Lappen wischte er den Staub ab und trug den Koffer vorsichtig ins Haus.
Zurück in seinem Zimmer stellte er den Koffer auf seine Commode vor dem Fenster. Da war er nun, ein stiller Zeuge einer vergangenen Zeit, voller Geheimnisse, die nur darauf warteten, gelüftet zu werden. Schimon spürte die Versuchung, ihn sofort zu öffnen, doch die Erschöpfung siegte. Morgen, dachte er, morgen Nachmittag, wenn er von der Arbeit zurück ist, dann wollte er sich dem Koffer widmen. Er wollte ihn nicht zwischen Tür und Angel öffnen, sondern sich Zeit nehmen und ungestört sein. Mit diesem Entschluss zog er seinen Schlafanzug an und löschte das Licht. Der Koffer verharrte schweigend in der Dunkelheit, wie ein Wächter vergessener Zeiten. Wilma, die kleine Hündin, drehte sich raschelnd in ihrem Körbchen, bevor sie sich wieder mit einem zufriedenen Seufzer zur Ruhe legte. Schimon schlief schnell ein, doch der Schlaf war unruhig. Er träumte von dem Koffer, er schien in dem Traum riesig zu sein, undurchdringlich. Eine Stimme flüsterte seinen Namen, „Schimon… öffne den Koffer… er wird dein Leben verändern…“ Die Stimme war vertraut, aber er konnte sie nicht zuordnen. Schweißgebadet wachte er auf. Vor ihm stand der Koffer, scheinbar harmlos im schwachen Licht des Mondes, das durch das Fenster fiel. „Öffne den Koffer…“ hallte die Stimme in seinem Kopf wider. Schimon starrte den Koffer an, sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er spürte den unwiderstehlichen Drang, ihn zu öffnen, doch die Müdigkeit war zu groß. „Morgen“, flüsterte er, „morgen werde ich ihn öffnen.“ Er schloss die Augen und versank wieder in einen unruhigen Schlaf. Fortsetzung folgt…
Beitrag teilen