19.12.1932 – Der Fliegende Hamburger, die Stimme Londons und der verordnete Friede
Es ist Montag, der 19. Dezember 1932, und wenn ich mich in diesen Tag hineinversetze, spüre ich eine seltsame, fast surreale Mischung aus frostiger Winterkälte und hitziger technologischer Aufbruchsstimmung. Wir befinden uns in einer Woche, in der die Menschen eigentlich zur Ruhe kommen sollten, denn Weihnachten steht vor der Tür. Berlin ist grau, die Luft ist schneidend kalt, und der Rauch aus den Kaminen der Mietskasernen legt sich wie eine schwere Decke über die Stadt. Doch genau an diesem Morgen, während viele Menschen in ihren dünnen Mänteln zur Arbeit eilen oder sich in die Schlangen der Arbeitsämter einreihen, geschieht etwas, das wie ein Gruß aus einer glänzenden Zukunft wirkt. Am Lehrter Bahnhof steht kein gewöhnlicher Zug, sondern ein futuristisches Geschoss, das die Blicke aller auf sich zieht. Der „Fliegende Hamburger“, ein dieselelektrischer Schnelltriebwagen in elegantem Violett und Creme, macht sich bereit für eine Rekordfahrt, die in die Geschichtsbücher eingehen wird. Ich stelle mir vor, wie die Ingenieure und Journalisten mit stolzgeschwellter Brust am Bahnsteig stehen, den Atem in kleinen Wölkchen vor dem Mund, und darauf warten, dass dieses Wunderwerk der Technik den Beweis antritt, dass Deutschland trotz aller Krisen noch zu Weltklasseleistungen fähig ist.
Ein silberner Pfeil durch die düstere Zeit
Als der Zug sich in Bewegung setzt, beginnt ein Rausch der Geschwindigkeit, der für die damalige Zeit fast unvorstellbar war. Mit bis zu 160 Kilometern pro Stunde rast der Triebwagen über die Schienen und erreicht die Hansestadt Hamburg in sagenhaften 142 Minuten. Das war Weltrekord. Für einen kurzen Moment scheint es, als ob die moderne Technik die trübe Realität der Weimarer Republik einfach abhängen könnte. Doch während auf den Gleisen die Zukunft gefeiert wird, kämpft die politische Gegenwart in Berlin ums nackte Überleben. Reichskanzler Kurt von Schleicher, der erst seit kurzem im Amt ist, versucht verzweifelt, das sinkende Schiff zu stabilisieren. Genau an diesem Tag unterzeichnet Reichspräsident Paul von Hindenburg auf Schleichers Bitten hin eine Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens. Es ist der Versuch eines „Weihnachtsfriedens“ per Dekret. Amnestien werden erlassen, Presseverbote aufgehoben, und man hofft, durch Milde die radikalen Kräfte von links und rechts zu besänftigen. Es berührt mich seltsam, wenn ich daran denke: Hier die rasende Bahn, die Grenzen überwindet, und dort die starre, fast hilflose Geste einer sterbenden Demokratie, die glaubt, mit Tinte und Papier den Hass auf den Straßen bändigen zu können. Die Nationalsozialisten, die durch interne Streitigkeiten und finanzielle Nöte nach den Wahlen im November angeschlagen wirken, halten sich an diesem Tag taktisch zurück, doch die Ruhe ist trügerisch, ein Luftholen vor dem letzten, tödlichen Schlag.
Wellen über den Ozean und eine neue Stimme
Während in Deutschland die Distanz zwischen Berlin und Hamburg schrumpft, wird an diesem 19. Dezember auch die Welt ein ganzes Stück kleiner. In Daventry, England, werden riesige Antennen aktiviert, und eine Stimme geht auf Sendung, die bald rund um den Globus gehört werden soll. Der BBC Empire Service, der Vorläufer des heutigen World Service, nimmt seinen Betrieb auf. „This is London calling“ – diese Worte werden ab heute durch den Äther geschickt, über Ozeane und Wüsten hinweg bis in die entlegensten Winkel des britischen Weltreichs. Ich finde den Gedanken faszinierend, dass genau in dem Moment, in dem in Berlin die politische Kälte herrscht, eine globale Stimme geboren wird, die später im Krieg für viele Menschen die einzige Quelle der Wahrheit und Hoffnung sein würde. Auch im britischen Mandatsgebiet Palästina dürften diese neuen Kurzwellensignale empfangen worden sein. Dort, im Jischuw, herrscht eine ganz andere Art von Betriebsamkeit. Die Einwanderung, die fünfte Aliyah, nimmt langsam an Fahrt auf, getrieben von der dunklen Vorahnung dessen, was in Europa droht. Man kann sich bildlich vorstellen, wie in den Kaffeehäusern von Tel Aviv oder Jerusalem die Menschen zusammensitzen, vielleicht die erst vor wenigen Wochen gegründete Palestine Post lesen und nun den knisternden Nachrichten aus London lauschen. Es ist eine Zeit des Aufbaus und der Anspannung zugleich, eine Parallelwelt, in der jüdisches Leben eine neue Heimat sucht, während es in Deutschland zunehmend bedrängt wird.
Abschied von Vordenkern und die Stille vor dem Sturm
Der 19. Dezember ist aber auch ein Tag des Abschieds und der stillen Symbolik. Die Zeitungen berichten an diesem Montag ausführlich über den Tod von Eduard Bernstein, der am Vortag verstorben war. Bernstein war nicht nur ein bedeutender theoretischer Kopf der Sozialdemokratie, sondern auch ein Mann jüdischer Herkunft, der zeitlebens für Reformen und einen friedlichen Weg zum Sozialismus eintrat. Sein Tod wirkt im Rückblick wie ein düsteres Omen. Mit ihm wird symbolisch eine Idee zu Grabe getragen – die Idee, dass Vernunft und schrittweiser Fortschritt die Gesellschaft verbessern können. Während seine Nachrufe gedruckt werden, formieren sich im Hintergrund bereits die Kräfte, die alles, wofür er stand, vernichten wollen. Und doch, das Leben geht weiter, unbeirrt von der großen Geschichte. An diesem Tag erblickt in Göttingen ein Junge namens Bernhard Vogel das Licht der Welt. Niemand ahnt, dass dieser Säugling Jahrzehnte später als Ministerpräsident die Geschicke zweier deutscher Bundesländer lenken und ein Gesicht der christdemokratischen Politik in einer stabilen Demokratie werden wird. Es sind diese Gleichzeitigkeiten, die mich immer wieder erschaudern lassen: Ein politisches System stirbt, ein großer Denker geht, ein Kind wird geboren, und ein Zug rast in die Zukunft. Alles an einem einzigen, kalten Montag im Dezember. Wir sehen hier, wie nah technischer Triumph und gesellschaftlicher Abgrund beieinanderliegen können, wie fragil der „Frieden“ ist, wenn er nur verordnet und nicht gelebt wird.
Mich bewegt bei diesem Datum besonders der Kontrast zwischen dem „Fliegenden Hamburger“ und der politischen Lähmung. Glaubst Du, dass technischer Fortschritt auch heute manchmal darüber hinwegtäuscht, dass wir gesellschaftlich auf der Stelle treten oder uns sogar zurückentwickeln? Schreib mir Deine Gedanken dazu unbedingt in die Kommentare.
Euer Schimon
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