26.12.1932 – Tauwetter in Berlin, der Fememord der SA und die Not der Lebensmitteldiebe
Es ist ein besonderes Gefühl, wenn wir uns gemeinsam durch diese alten Zeitungsseiten blättern und spüren, wie die Distanz der Jahrzehnte plötzlich schwindet. Wenn du dir vorstellst, wie die Menschen an diesem Montagmorgen im Dezember 1932 die Berliner Morgen-Zeitung aufschlugen, dann siehst du eine Welt, die zwischen festlicher Besinnlichkeit und dem nackten Überlebenskampf zerrissen war. Draußen vor den Fenstern vollzog sich ein radikaler Wetterumschwung, der fast wie eine Metapher für die politische Lage wirkte. Die weiße Pracht, die über die Feiertage ein wenig Reinheit vorgetäuscht hatte, schmolz unter dem einsetzenden Tauwetter dahin und hinterließ nur grauen Matsch auf dem Pflaster. Über 300.000 Berliner, die voller Hoffnung ins Umland aufgebrochen waren, um auf Skiern oder Schlitten dem Alltag zu entfliehen, mussten enttäuscht feststellen, dass der Winterzauber verflogen war. Während im Sportpalast noch die Begeisterung über das Eishockeyspiel gegen die Kanadier nachhallte, kehrte in den Mietskasernen der Hunger zurück, der sich nicht durch Weihnachtsfeiertage betäuben ließ. In der Yorkstraße und im Wedding wurden Männer festgenommen, die aus purer Not in Geschäfte eingebrochen waren, um Fleisch und Wurst zu stehlen. Es ist diese erschütternde Gleichzeitigkeit von bürgerlichem Vergnügen und der Kriminalität aus Verzweiflung, die diesen zweiten Feiertag so schwer auf der Seele lasten lässt.
Eine Gesellschaft im Schatten der Gewalt und der Willkür
Wenn wir tiefer in die Berichte eintauchen, begegnet uns eine Brutalität, die zeigt, wie sehr das Rechtsempfinden in jenen Tagen bereits ausgehöhlt war. Besonders erschütternd ist die Nachricht aus Dresden, wo man in der Talsperre Malter die Leiche des SA-Mannes Hensch fand, an einen Stein gefesselt und hingerichtet. Dass die eigene Organisation erst versuchte, die Schuld auf die Eiserne Front zu schieben, nur um dann zugeben zu müssen, dass es ein Fememord aus den eigenen Reihen war, lässt tief blicken. Man spürt förmlich, wie die Gewalt der Straße in die Politik sickerte und dort eine Eigendynamik entwickelte, die kaum noch zu kontrollieren war. Auch hier in Berlin-Moabit zeigte der Staat seine harte Hand, als die Polizei eine als wissenschaftlicher Vortrag getarnte KPD-Versammlung auflöste. Es ist bemerkenswert, dass die Berliner Morgen-Zeitung, die zum liberalen Mosse-Verlag gehörte, über diese Vorfälle noch so klar und ungeschönt berichtete. Die Familie Mosse, jüdischer Herkunft und fest im bürgerlichen Liberalismus verwurzelt, hielt mit ihrem Blatt noch immer gegen die braune Flut stand. Doch zwischen den Zeilen über den Sport und die Revuen liest man die Angst, dass diese Freiheit der Berichterstattung ein baldiges Ende finden könnte, wenn die Stiefel der SA erst einmal den Takt der Nation vorgeben.
Tragödien im Privaten und die Sehnsucht nach Weltfrieden
Inmitten dieser großen politischen Erschütterungen gab es jene kleinen, persönlichen Katastrophen, die uns heute noch die Tränen in die Augen treiben, wenn wir sie lesen. Denk an das schreckliche Unglück in Liegnitz, wo ein junges Mädchen beim Ofen Feuer fing und in ihrer blinden Panik brennend vom Balkon in den Tod sprang. Solche Nachrichten aus der Provinz wirken neben den Berichten über den Chaco-Krieg in Südamerika oder den Radioansprachen aus Amerika fast schon surreal. In den USA sprach Senator Borah zu Millionen von Zuhörern und forderte, dass die Zivilisation nur gerettet werden könne, wenn man den Hungernden Brot gebe und international kooperiere. Diese Worte klingen wie ein ferner Ruf aus einer vernünftigeren Welt, während wir hier in Deutschland beobachten mussten, wie die soziale Not die Menschen immer tiefer in die Arme der Radikalen trieb. Es ist diese Mischung aus tiefstem privatem Leid, wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit und einer noch immer pulsierenden Kultur, die das Jahr 1932 so einzigartig und beklemmend macht. Wir blicken auf diese Zeit zurück und wissen, was kommen wird, doch die Menschen damals standen an diesem verregneten 26. Dezember vor einer ungewissen Wand aus Matsch und Nebel. Was denkst du, wenn du diese Berichte liest und siehst, wie ähnlich die Sorgen um den sozialen Frieden und die Angst vor radikaler Gewalt unseren heutigen Debatten manchmal sind?
Euer Schimon
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