Episode 7: Bausteine für das Haus zum Fels – Eine Zeichnung und der Blick in die Zukunft

Als Schimon die Augen öffnete, umfing ihn die Stille der Nacht. Das fahle Mondlicht fiel durch ein kleines Fenster und tauchte den schlichten Raum in silbrigen Schein. Langsam hob er den Kopf und ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. Die Einrichtung war einfach: ein Tisch, zwei Stühle, ein alter Holzofen. Die Wände wirkten kahl, der Boden knarrte unter seinen Schritten, als er vorsichtig zum Fenster trat.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er hinausblickte. Dort, nur wenige Meter entfernt, erhob sich der Kirchturm von Schwabbach. Doch etwas stimmte nicht. Viele der Häuser, die ihm vertraut waren, fehlten. Die vertrauten Straßen waren Feldwege. Schimon wurde klar, dass er sich in einer Zeit befand – eine Zeit, in der Schwabbach noch nicht das Dorf war, das er kannte.

Sein Herz schlug schneller. War das möglich? Er drehte sich zur Seite und entdeckte das Nachbarhaus. Schimon sog scharf die Luft ein. Das war das Haus seiner Kindheit, sein Elternhaus – doch es sah anders aus. Der Vorbau, die Scheune, alles wirkte kleiner, ursprünglicher. So also hatte es ausgesehen, bevor sein Vater es umgebaut hatte.

In dem Haus brannte Licht. Ein unbändiger Drang packte ihn, einfach hinüber laufen. Doch er zwang sich zur Ruhe. Es musste einen Grund haben, warum er auf seiner Zeitreise genau hier gelandet war. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wo er sich befand – im Haus der Familie Scheifele. Oswald hatte damals die Wohnung im Erdgeschoss bei Fritz Scheifele gemietet.

Schimons Gedanken rasten. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren. Er wirbelte herum – und erstarrte. Vor ihm standen Oswald und Emilie. Seine Großeltern.

Lebendig, voller Kraft und Tatendrang. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er kannte ihre Gesichter aus dieser Zeit nur von verblassten Schwarz-Weiß-Fotografien, doch jetzt standen sie leibhaftig vor ihm, atmeten, bewegten sich, waren hier. Er wollte nach ihnen greifen, sie berühren, doch er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnten.

Trotzdem war der Moment überwältigend. Oswald trat an den Tisch und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Emilie setzte sich ihm gegenüber. „Die ersten Spenden sind eingegangen“, sagte Oswald leise, beinahe ehrfürchtig, während er ein schmales, orangefarbenes Heft in den Händen hielt.

Schimon trat näher und las die Aufschrift: Bau-Steine, Altenwohnheim „Haus zum Fels e.V.“

Oswald schüttelte den Kopf und lachte ungläubig. „Und stell dir vor, der Architekt hat mir heute die neuen Baupläne gezeigt. Sie sehen genau so aus wie Günters Zeichnung für den Spendenbrief. Kann das ein Zufall sein?“

Schimon hielt den Atem an. Günter – sein Vater. Er erinnerte sich, dass sein Vater ihm einmal erzählt hatte, wie er als Junge ein Bild für einen Flyer gezeichnet hatte. Ein großes Haus, darüber ein Flugzeug, das ein Transparent hinter sich herzog, auf dem stand: Hilf bauen! Er wusste, dass viele Freunde und Bekannte damals gespendet hatten – kleine Beträge, Bausteine genannt, um das „Haus zum Fels“ zu verwirklichen.

Emilie lächelte sanft. „Das ist kein Zufall, Oswald. Das ist ein Reden Gottes.“

Oswald nickte langsam. „Ich habe heute auch einen Brief geschrieben, es geht um den Antrag auf Wiedergutmachung“, sagte er und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Tasche. „Ich wollte ihn dir vorlesen, bevor ich ihn abschicke.“

Schimon konnte kaum fassen, was er hier erlebte. Das Licht der Lampe über dem Tisch warf sanfte Schatten auf die Gesichter seiner Großeltern. Oswalds Stimme war ruhig, durchdrungen von der Ernsthaftigkeit der Erinnerungen, als er zu lesen begann. Emilie hörte aufmerksam zu, ihre Hände auf dem Tisch gefaltet.

Dann hob Oswald plötzlich den Blick und runzelte die Stirn. „Es ist doch heute der 1. Juni 1962, oder?“ Emilie nickte. „Ja, Oswald, heute ist Freitag, der 1. Juni. Warum fragst du?“

Oswald schmunzelte. „Ich bin eben auch nicht mehr der Jüngste. Aber gut zu wissen, dass wir heute am 1. Juni hier sitzen und ich dir das vorlesen kann.“

Er strich mit den Fingern über das Papier. „Im Jahre 1928 kaufte ich von meinem Verwandten ein Geschäft für den Groß- und Detailvertrieb von pharmazeutischen und kosmetischen Artikeln,“ las er mit Bedacht. Dann hielt er inne. „Weißt du noch, Emilie, wie stolz wir damals auf unser Geschäft waren? Es war nicht nur unser Einkommen, es war unser Lebenswerk.“

Schimon spürte die Wärme in Oswalds Stimme – aber auch eine Spur Wehmut. So wenig wusste er über dieses Geschäft, das einmal das Zentrum ihres Lebens gewesen war.

Emilie nickte. „Ja, Oswald, und wie du immer die besten Produkte selbst ausgewählt hast. Die Vertreter schwärmten davon, wie sehr du dich für sie eingesetzt hast.“

Oswald blätterte weiter. Seine Stimme wurde leiser. „Aber dann… die Verfolgung begann.“

Emilie zuckte zusammen. Ihre Finger krallten sich ineinander. Schimon spürte die Veränderung im Raum. Die Ruhe wurde durch die Erinnerung an diese dunkle Zeit getrübt.

Oswald legte das Blatt kurz zur Seite und seufzte. „Die Nazis haben uns alles genommen, Emilie. Nicht nur unser Geschäft, sondern auch unsere Sicherheit und unsere Gesundheit. Und das Schlimmste ist, dass viele von diesen ‚Hitlers‘ wieder in Amt und Würden sitzen.“

„Aber sie konnten uns nicht den Glauben nehmen,“ sagte Emilie leise, ihre Stimme zitterte, doch ihr Blick blieb fest. „Erinnerst du dich, wie wir zusammen im Garten der Villa saßen und gemeinsam beteten? Das gab mir Kraft.“

Oswald lächelte. „Ja. Weißt du noch, wie wir damals mit dem Waldix-Vertrieb so viel Geld verdient haben? Manchmal hatte ich Angst, dass ich durch den Reichtum den Glauben an Gott verlieren könnte.“

Er machte eine kurze Pause. „Ich habe damals gebetet, dass Gott mich davor bewahren möge. Ich sagte zu ihm: ‚Herr, wenn der Reichtum mich von dir abbringen könnte, dann nimm ihn mir lieber weg. Ich möchte dir nachfolgen, nicht dem Geld.‘“

Er sah Emilie an, sein Lächeln wurde sanfter. „Ich denke, Gott hat mein Gebet erhört.“ Emilie legte ihre Hand auf seine. „Ja, Oswald. Und obwohl wir so viel verloren haben, haben wir doch das Wertvollste behalten: unseren Glauben.“

Schimon konnte nicht länger stehen. Er lehnte sich gegen die Wand. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Das war sein Großvater. Der Mann, den er immer als ernsthaften, kämpferischen Menschen gesehen hatte, sprach hier mit tiefer Demut.

Er wusste nun: Oswald war bereit gewesen, alles für seinen Glauben aufzugeben. Und plötzlich verstand er, warum er hier war. Fortsetzung folgt…

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