Kalenderblatt

17.12.1932 – Der brüchige Weihnachtsfrieden, ein Kampf gegen die Moderne und Jakobs Begegnung

Es ist ein Samstag, der sich in Berlin und im ganzen Reich mit einer trügerischen Ruhe über die Dächer legt. Nur noch eine Woche bis Heiligabend, und die Menschen scheinen sich kollektiv danach zu sehnen, die zermürbende Politik für einen Moment aus ihren kalten Wohnstuben zu verbannen. Wenn ich heute durch die Straßen gehe, spüre ich diese seltsame Mischung aus Erschöpfung und einer leisen, fast naiven Hoffnung. Die Geschäfte sind gefüllt, denn es ist der Samstag vor dem Goldenen Sonntag, und wer noch ein wenig Geld beiseitelegen konnte, sucht nach Geschenken, um den Schein der Normalität zu wahren. Das Wetter passt zur gedrückten Stimmung, ein grauer Himmel hängt tief über der Stadt, und in den Zeitungsarchiven lese ich, dass es zwar nicht klirrend kalt, aber nasskalt und ungemütlich ist. Es ist jene Art von Wintertag, an dem man sich gerne einredet, dass das kommende Jahr besser werden muss, einfach weil es nicht mehr schlimmer werden kann. Doch während die Menschen Nüsse und Äpfel kaufen, mahlen die Mühlen der Geschichte unaufhörlich weiter, auch wenn sie an diesem 17. Dezember weniger Lärm machen als sonst.

Die Stille der Politik und das Rauschen in der Ferne

In der Reichskanzlei herrscht an diesem Samstag eine fast gespenstische Betriebsamkeit unter der Oberfläche. Kurt von Schleicher, der neue Kanzler, arbeitet an seinem großen Plan, der Querfront. Man hört in den Cafés das Flüstern, dass die Gefahr der Nationalsozialisten gebannt sei. Tatsächlich ist die NSDAP an diesem Tag finanziell am Boden, die Parteikassen sind leer, und nach dem Rücktritt von Gregor Strasser vor wenigen Tagen wirkt die Bewegung gespalten und orientierungslos. Viele konservative Bürger atmen heute auf und glauben, der Spuk sei vorüber, da Goebbels in seinem Tagebuch von Depressionen und Geldmangel schreibt. Doch es ist eine gefährliche Illusion. Während man in Berlin glaubt, die Demokratie – oder zumindest eine stabile Ordnung – gerettet zu haben, blickt man auch über die Grenzen. Eine Nachricht aus Afrika erreicht an diesem Tag die Heimat und sorgt für patriotischen Stolz bei den Nationalisten: In Südwestafrika, dem heutigen Namibia, verabschiedet der dortige Landtag einen Antrag, Deutsch als dritte Amtssprache neben Englisch und Afrikaans anzuerkennen. Es ist ein symbolischer Sieg für das Deutschtum in der Ferne, der hier im Reich begierig aufgenommen wird, um das angekratzte Selbstbewusstsein zu streicheln. Gleichzeitig formiert sich in Italien ein kultureller Widerstand, der den Geist der Zeit atmet. Eine Gruppe prominenter Musiker um Ottorino Respighi veröffentlicht ein Manifest gegen die moderne Musik, gegen die Atonalität, und fordert eine Rückkehr zur Tradition und Ordnung. Es scheint, als ob sich an diesem Tag weltweit eine Sehnsucht nach alter Stabilität und gegen das Experimentelle manifestiert, ein kultureller Vorbote der politischen Erstarrung, die uns bald erfassen wird.

Ein Schabbat der Vorahnung

Für die jüdische Gemeinschaft ist dieser 17. Dezember jedoch nicht nur ein Samstag des Weihnachtseinkaufs der christlichen Nachbarn, sondern ein heiliger Ruhetag. Wir befinden uns im jüdischen Kalender am 18. Kislev des Jahres 5693. In den Synagogen wird an diesem Morgen der Wochenabschnitt Wajischlach gelesen, und selten hat ein biblischer Text so präzise die Gefühlslage einer ganzen Generation getroffen wie an diesem Tag. Die Tora erzählt uns heute von Jakob, der nach langer Zeit in die Heimat zurückkehrt und erfährt, dass sein Bruder Esau ihm mit vierhundert bewaffneten Männern entgegenzieht. Jakob hat Angst, er fürchtet um sein Leben und das seiner Familie. Er bereitet sich auf den Kampf vor, betet aber inständig um Rettung. Wenn ich mir vorstelle, wie die Rabbiner und die Gemeinden an diesem Vormittag diese Zeilen lesen, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Die Parallele ist greifbar. Auch das deutsche Judentum sieht sich einer drohenden Macht gegenüber, die sich bewaffnet und formiert, auch wenn sie momentan durch interne Krisen geschwächt scheint. Die uralte Geschichte von der Angst vor der Vernichtung und der Hoffnung auf Versöhnung oder zumindest Überleben wird an diesem Samstag im Dezember 1932 zur bitteren Realität. Man sitzt beim Schabbat-Mahl, bricht das Brot und hofft, dass der Esau unserer Zeit, die braune Gefahr, sich ebenso besänftigen lässt wie der biblische Bruder. Es ist ein Tag des Gebets in einer Zeit, in der Argumente langsam ihre Wirkung verlieren.

Zwischen Hoffnung und Realität

Der Tag neigt sich dem Ende zu, und die Lichter in den Fenstern werden entzündet. Im Radio laufen unterhaltende Programme, die von den Sorgen ablenken sollen, Schlager und leichte Klassik, während draußen die SA-Männer trotz ihrer Krise mit Sammelbüchsen stehen und aggressiv für die Winterhilfe der Partei betteln. Dieser 17. Dezember ist ein Tag des Übergangs. Er gaukelt uns vor, dass die Welt noch in den Fugen ist, dass Musik wieder harmonisch sein soll, dass Deutsch in der Welt geachtet wird und dass die politischen Extremisten am Ende sind. Wir klammern uns an diese Normalität, wir kaufen Geschenke und planen das Festmahl. Aber tief drinnen, vielleicht inspiriert durch die Lesung der Tora, spüren wir, dass diese Ruhe nicht von Dauer sein wird. Wir stehen an der Schwelle, genau wie Jakob am Fluss Jabbok, und wissen nicht, was der nächste Morgen bringt. Es ist dieser Moment des Luftanhaltens, bevor der Sturm losbricht, den wir heute noch einmal als Frieden missverstehen wollen.

Glaubst Du, dass wir Menschen ein Gespür dafür haben, wenn sich historische Wendepunkte nähern, oder reden wir uns diese Vorahnungen im Nachhinein nur ein, um das Unfassbare begreifbar zu machen?

Euer Schimon


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Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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