Wenn das Fest der Liebe zur Zerreißprobe wird und wie wir echten Familienfrieden finden
Es ist jedes Jahr das gleiche Bild in unseren Köpfen und Herzen. Wir sehnen uns nach einer Zeit der Stille, nach glänzenden Kinderaugen und einem harmonischen Miteinander, das uns durch die dunklen Wintertage trägt. Doch kaum brennen die Kerzen und der Duft von Festessen zieht durch das Haus, spüren viele von uns diesen vertrauten Knoten im Magen. Es ist die Angst vor dem Moment, in dem die Stimmung kippt, in dem ein falsches Wort das mühsam errichtete Kartenhaus der Idylle zum Einsturz bringt. Der Streit unter dem Weihnachtsbaum ist längst zu einem traurigen Klassiker geworden, der uns immer wieder vor die Frage stellt, warum ausgerechnet das Fest der Liebe so oft zum emotionalen Pulverfass wird. Wir laden uns eine Last auf die Schultern, die kaum zu tragen ist, indem wir den Anspruch erheben, dass an diesen wenigen Tagen alles perfekt sein muss. Dieser enorme Erwartungsdruck ist die eigentliche Zündschnur für viele Konflikte. Wenn die Realität dann nicht mit dem glitzernden Bild in unseren Köpfen Schritt halten kann, bricht sich die Enttäuschung Bahn und entlädt sich oft dort, wo wir uns eigentlich am sichersten fühlen sollten. Wir vergessen dabei, dass Harmonie kein Zustand ist, den man dekoriert wie einen Baum, sondern ein empfindliches Geflecht, das Pflege braucht.
Der Druck der hohen Erwartungen
Wir unterschätzen oft, was es bedeutet, wenn wir an den Feiertagen wie in einem Dampfkochtopf zusammenkommen. Plötzlich verbringen wir Stunden und Tage auf engem Raum mit Menschen, die wir im Alltag meist nur in wohl dosierten Portionen sehen. In dieser künstlich erzeugten Nähe fallen die Schutzmauern, die wir uns über das Jahr hinweg mühsam aufgebaut haben. Wir sind erschöpft vom Besorgen der Geschenke, vom Termindruck im Büro und vom inneren Zwang, es jedem recht zu machen. Wenn wir dann endlich zusammen am Tisch sitzen, sind wir eigentlich dünnhäutig und brauchen Ruhe, treffen aber auf die ungefilterten Erwartungen und Eigenheiten unserer Verwandtschaft. Es ist ein beinahe physikalisches Gesetz des Zwischenmenschlichen, dass Reibung Hitze erzeugt, und an den Feiertagen ist die Reibungsfläche so groß wie sonst nie im Jahr. Wir versuchen krampfhaft, Konflikte unter den Teppich zu kehren, doch genau diese unterdrückten Emotionen sind es, die unter dem Druck der Feiertage irgendwann nach oben drängen und das Ventil zum Pfeifen bringen. Es ist die Erschöpfung, die uns die Geduld raubt, und die Reizüberflutung, die unsere Sinne überfordert, bis eine Kleinigkeit ausreicht, um die mühsam gewahrte Fassade zum Bröckeln zu bringen.
Die harte Arbeit an den alten Rollen
Ein besonders tiefliegender Grund für die weihnachtliche Unruhe liegt in den unsichtbaren Rollen, in die wir fast automatisch zurückfallen, sobald wir die Schwelle unseres Elternhauses übertreten. Da sitzt man als gestandener Mensch, der im Beruf Verantwortung trägt und sein eigenes Leben meistert, am Esstisch der Eltern und fühlt sich durch eine einzige Bemerkung der Mutter über die Frisur oder die Tischmanieren wieder wie ein unsicherer Teenager. Wir reagieren in diesen Momenten nicht aus unserer erwachsenen Kraft heraus, sondern aus den alten Verletzungen und Mustern unserer Kindheit. Diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist eine der schwersten Aufgaben überhaupt. Ich habe selbst über Jahre hinweg erlebt, wie viel Kraft es kostet, diese Rollen neu zu definieren. Es war ein langer und oft schmerzhafter Prozess, meine Eltern in ihrem Alter zu begleiten und die Dynamik von der kindlichen Abhängigkeit hin zu einer fürsorglichen Begleitung auf Augenhöhe zu verschieben. Das ist harte Arbeit, die nicht nur von einem selbst, sondern von allen Beteiligten viel Mut verlangt. Solche Veränderungen passieren nicht durch ein Wunder am heiligen Abend, sondern sind das Ergebnis ständiger, wöchentlicher Auseinandersetzung und ehrlicher Beziehungsarbeit über das ganze Jahr hinweg. Wer glaubt, man könne das Verhältnis zu seinen Nächsten mal eben zwischen Bescherung und Dessert klären, wird fast zwangsläufig enttäuscht werden, weil die alten Geister der Vergangenheit an solchen Tagen besonders laut rufen.
Ein neues Fundament für die Gemeinschaft
Wenn ich auf mein eigenes Leben blicke, empfinde ich heute eine tiefe Dankbarkeit für die Familie, die meine Frau und ich uns aufgebaut haben. Erst vor ein paar Tagen haben wir gemeinsam Chanukka gefeiert, und das Haus war erfüllt vom Lachen unserer drei Kinder, ihrer Partner und unserer fünf Enkelkinder. Es war lebendig, laut und echt. Wir haben über die Jahre gelernt, dass wirkliche Harmonie nicht bedeutet, niemals zu streiten, sondern die Fähigkeit zu besitzen, Krisen und Konflikte offen und ehrlich auszutragen. Wir haben einander das Recht zugestanden, verschieden zu sein, und uns den Raum gegeben, auch mal schwierig zu sein, ohne dass gleich das gesamte Fundament wackelt. Diese Offenheit ist das beste Mittel gegen den weihnachtlichen Groll. Es ist eine bewusste Entscheidung, die Masken fallen zu lassen und sich auch mit den eigenen Unzulänglichkeiten zu zeigen. Echter Frieden unterm Baum ist kein Geschenk, das man einfach auspackt und das dann glänzt. Er ist die Frucht einer ganzjährigen Bereitschaft, einander wirklich zuzuhören und sich nicht hinter den Erwartungen der anderen zu verstecken. Es ist das Wissen, dass wir geliebt werden, auch wenn die Gans verbrennt oder die Nerven blank liegen. Es ist die Arbeit an den Fundamenten unserer Beziehungen, die uns trägt, wenn der Wind an den Feiertagen mal rauer weht und die alten Rollenbilder an uns zerren wollen. Hast Du in Deiner Familie auch schon erlebt, dass die alten Rollenmuster an den Feiertagen plötzlich wieder die Oberhand gewinnen wollen, und wie gehst Du heute damit um? Schreibt mir Eure Erfahrungen und Gedanken dazu sehr gerne in die Kommentare.
Euer Schimon
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