Wenn der Rechtsstaat noch funktioniert, aber der Hass schon die Gesellschaft vergiftet
Ich verbringe in diesen Wochen viel Zeit mit dem Lesen alter Zeitungsarchive aus dem Dezember 1932. Es ist eine seltsame, fast schmerzhafte Beschäftigung, denn je mehr ich in diese Welt eintauche, desto weniger fühlt sie sich wie ferne Geschichte an. Was mich dabei am meisten umtreibt, ist nicht der große Umbruch, den wir alle aus den Geschichtsbüchern kennen, sondern dieses tückische Dazwischen. Es ist das Gefühl eines „Noch“ und eines „Schon“ – eine Zeit, in der die Gerichte noch Recht sprachen, während der Mob auf der Straße bereits die Urteile der Zukunft brüllte. Es ist dieses schleichende Gift, das die Fundamente einer Gesellschaft zersetzt, lange bevor die Mauern offiziell einstürzen. Wenn ich die Berichte über jene Tage lese, sehe ich keine verstaubten Dokumente, sondern einen Spiegel. Ich sehe die gleichen Mechanismen der Ausgrenzung, die gleiche Lust an der Vernichtung und die gleiche Feigheit derer, die glauben, man könne mit dem Hass verhandeln. Es gibt keinen „modernen“ Antisemitismus, auch wenn wir heute oft so tun, als hätten wir es mit neuen, rein politischen Phänomenen zu tun. Antisemitismus bleibt Antisemitismus, egal ob er im braunen Gewand von 1932 daherkommt oder sich heute hinter dem Schutzschild einer vermeintlich progressiven „Israelkritik“ verbirgt. Es ist die gleiche uralte Jauche in neuen Schläuchen, und sie riecht heute genauso beißend wie damals.
Die Justiz als Werkzeug und der Hochmut der Institutionen
Ein Fall aus dem Dezember 1932 lässt mich nicht los: Der Prozess gegen den Chemiker Prof. Dr. Nikodem Caro. Er war ein Pionier der Industrie, ein Mitbegründer der Bayerischen Stickstoffwerke, ein Mann von Rang. Er wurde wegen angeblichen Betruges angeklagt, doch am Ende stand ein glatter Freispruch. Das Gericht stellte fest, dass die Vorwürfe vollkommen haltlos waren und nur durch eine „wüste antisemitische Hetze“ ins Rollen gebracht wurden.
„Er [der Verteidiger] hat darauf hingewiesen, daß hier eine wüste antisemitische Hetze die Anzeigenerstatterin Löwenstein auf den Plan gerufen habe, die aus einem politischen Hintergedanken gehandelt habe, um einen jüdischen Großindustriellen zu Fall zu bringen.“
Das ist der Moment, in dem man tief durchatmen möchte: Der Rechtsstaat funktionierte noch! Aber der Preis war bereits bezahlt. Die Kampagne hatte Caro bereits markiert, sein Ruf war durch den Schlamm gezogen worden, und die Geschichte war in der Welt. Wenn ich das mit heute vergleiche, sehe ich genau diese Technik der Zersetzung wieder. Wir erleben, wie heute juristische Begriffe und internationale Institutionen missbraucht werden, um den jüdischen Staat und damit jüdisches Leben weltweit zu delegitimieren. Es ist der Versuch, Hass durch ein „Verfahren“ zu adeln. An unseren Universitäten erleben wir derzeit eine ganz ähnliche Erosion. In den Quellen von 1932 wird ein Rektor Seidel erwähnt, gegen dessen Antisemitismus protestiert wurde – Diskriminierung war damals schon im Bildungswesen angekommen, ganz beiläufig, fast schon im administrativen Tonfall. Heute sehen wir an den Elite-Universitäten der Welt, wie jüdische Studierende ausgegrenzt werden, wie Hörsäle besetzt und Professoren eingeschüchtert werden. Oft geschieht dies unter dem Deckmantel der Wissenschaft oder der Meinungsfreiheit, doch wenn jüdische Identität zum Ausschlusskriterium wird, dann ist das kein akademischer Diskurs mehr, sondern die intellektuelle Vorbereitung des Pogroms. Es ist die gleiche Arroganz der Bildungselite wie 1932: Man glaubt, man sei besonders reflektiert, während man doch nur dem ältesten Vorurteil der Welt ein neues Vokabular verleiht.
Die Reinheitslogik der Ideologen und das Brüllen auf der Straße
Besonders beklemmend ist der Blick in die damalige SA, wo bereits vor 1933 eine paranoide Suche nach dem „Sechzehntel jüdischen Blutes“ stattfand. Es gab interne Säuberungen wie im Fall eines Adjutanten namens Schmidt, der verstoßen wurde, weil seine Großmutter angeblich Jüdin war. Diese Besessenheit von der Herkunft, diese Reinheitslogik, die keinen Millimeter Abweichung duldet, ist ein Kennzeichen jeder totalitären Bewegung. Und heute? Ich sehe heute eine neue Form dieser Reinheitslogik, die zwar nicht immer biologisch, dafür aber ideologisch und moralisch absolut auftritt. Es ist ein Klima entstanden, in dem Nuancen als Verrat gelten. Wer nicht bereit ist, in das Gebrüll gegen Israel einzustimmen, wer das Existenzrecht des einzigen jüdischen Staates verteidigt, wird aus bestimmten Kreisen verstoßen. Es ist die gleiche Mechanik der Exklusion: Du musst dich beweisen, du musst dich distanzieren, du musst die „richtige“ Gesinnung zeigen, sonst gehörst du nicht mehr dazu. Diese ideologische Enge verbindet sich heute nahtlos mit der rohen Gewalt auf der Straße. Wenn wir Demonstrationen sehen, auf denen die Gräueltaten der Hamas verharmlost, relativiert oder gar als „Widerstand“ gefeiert werden, dann blicken wir direkt in den Abgrund von 1932. Das ist kein politischer Protest, das ist das brutale Brüllen der Entmenschlichung. Es ist die gleiche Lust an der Gewalt, die damals die SA-Männer auf die Straßen trieb. Der Hass braucht keine Fakten, er braucht nur ein Ventil. Dass heute auf deutschen Straßen wieder Parolen gerufen werden können, die zur Vernichtung jüdischen Lebens aufrufen, während sich manche Intellektuelle in den Talkshows in semantischen Feinheiten über „Kontext“ verlieren, ist eine Schande, die mich sprachlos macht. Es zeigt, wie wenig wir aus der Geschichte gelernt haben, wenn wir glauben, dass Antisemitismus nur dann gefährlich ist, wenn er Springerstiefel trägt.
Die schöne Fassade und die Zerbrechlichkeit der Anerkennung
Was mich am meisten frösteln lässt, ist der Kontrast innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. In denselben Zeitungen, in denen über Caro gehetzt wurde, findet sich eine feierliche Würdigung zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Oscar Rosenthal. Man feiert ihn als deutschen Spitzenforscher, man ehrt sein Lebenswerk, man tut so, als sei alles in bester Ordnung. Es ist diese trügerische Sicherheit des bürgerlichen Lobes, die so gefährlich ist. Man glaubte 1932 noch, dass die Verdienste, die Leistung und die Integration einen Schutzschild bilden würden. Doch dieser Schutzschild war aus Papier. Heute verlassen wir uns oft auf unsere Gedenkkultur, auf die Staatsräson und auf die vielen Preise, die wir verleihen. Aber Anerkennung ist flüchtig, wenn das gesellschaftliche Klima kippt. Wir können nicht einerseits Oscar Rosenthal ehren und gleichzeitig zusehen, wie an den Universitäten und auf den Straßen das Fundament seiner Existenz untergraben wird. Die Geschichte von 1932 lehrt uns, dass der Hass niemals satt wird; er fängt bei den Schwächsten an und arbeitet sich hoch bis in die Spitzen der Gesellschaft. Wenn wir heute zulassen, dass jüdische Kinder sich nicht mehr trauen, ihre Kette mit dem Davidstern offen zu tragen, oder wenn jüdische Studierende über Hinterausgänge aus den Hörsälen fliehen müssen, dann ist die bürgerliche Anerkennung nur noch eine hohle Phrase. Es ist ein Warnsignal, das wir nicht ignorieren dürfen. Die Grenze verschiebt sich nicht durch einen lauten Knall, sondern durch die tägliche Gewöhnung an das Unaussprechliche. Mich würde interessieren, was Du denkst: Wo hast Du in Deinem Alltag das Gefühl, dass die Grenze des Sagbaren und des Duldbaren verschoben wird, und wo müssen wir lauter werden, um diesen Prozess zu stoppen? Schreib mir Deine Gedanken dazu gerne in die Kommentare, denn das Schweigen ist der Nährboden, auf dem das Unheil von damals wieder wachsen kann.
Euer Schimon
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