Schimon stand einige Meter entfernt von der halb geöffneten Tür der Waldarbeiter-Hütte. Die eisige Luft brannte in seinen Lungen, und seine Füße versanken knirschend im hohen Schnee. Ein frostiger Windstoß trieb feine Schneekristalle über den hartgefrorenen Boden und ließ sie in der Dunkelheit glitzern. Die karge Winterlandschaft wirkte bedrohlich still, nur das entfernte Knacken vereister Äste unterbrach die gespenstische Stille.
In der Hütte flackerte ein schwaches Licht, das sich kaum gegen die Finsternis behaupten konnte. Er spähte durch die Lücke der Tür und ließ seinen Blick in die spärlich beleuchtete Hütte gleiten. Da er aus seinen bisherigen Zeitreisen wusste, dass man ihn nicht sehen konnte, trat er vorsichtig näher an die Schwelle.
Der Raum war klein und karg. In einer dunklen Ecke stapelten sich grob bearbeitete Werkzeuge – Hacken, Sägen und Spaten, deren Klingen im flackernden Licht matt aufblitzten. In der Mitte stand ein schlichter Holztisch, mit tiefen Kerben übersät, als hätte jemand mit der Axt darauf eingeschlagen. An den Wänden lehnten schmale, abgenutzte Bänke, auf denen ein paar alte, schmutzige dünne Decken lagen.
Schimon richtete seinen Blick erneut auf den Jungen, der auf einer der Bänke saß. Sein Herz zog sich zusammen. Sein Vater – damals ein zarter, neunjähriger Junge – sah erbärmlich aus. Seine zu dünnen Beine steckten in einer kurzen Hose, die an den Nähten ausgefranst war, die langen Kniestrümpfe schlabberten um seine Waden. Sein ganzer Körper wirkte ausgemergelt, als hätte er seit Tagen nichts Ordentliches mehr gegessen. Sein Gesicht, eingefallen und blass, war mit einem seltsamen, krustigen Ausschlag überzogen. Sein Blick war leer, als hätte er längst aufgehört, auf Hilfe zu hoffen. Schimon schluckte hart. Noch nie hatte er seinen Vater, einen Jungen von 9 Jahren, so verletzlich gesehen.
Schimon hörte aufmerksam zu, wie sich der Feldwebel mit Herrn Lontke unterhielt. Seine Stimme war ruhig, aber entschlossen. „Ihr könnt hier nicht lange bleiben. Die Russen werden euch früher oder später aufspüren.“ Seine scharfen Augen musterten die Männer, während sein Blick durch die Hütte wanderte, als würde er bereits nach einem möglichen Ausweg suchen. Lontke strich sich mit rauen Fingern über das Kinn, seine Stirn in tiefe Falten gelegt. „Wir werden in den nächsten Tagen ein anderes Versteck suchen müssen,“ murmelte er, während er unruhig durch den Raum blickte.
Die Soldaten standen in kleinen Gruppen, einige lehnten erschöpft gegen die groben Holzbalken der Hütte, während sich ein paar von ihnen um den Ofen drängten. Das Eisen glühte vor Hitze, und der Kamin speite eine helle, züngelnde Flamme in die Nacht hinaus. Das Licht ließ die Schatten im Raum tanzen, ein gefährliches Zeichen in dieser unsicheren Zeit. Der Feldwebel deutete auf die lodernden Flammen. „Ihr dürft den Ofen nicht so stark anheizen,“ ermahnte er Lontke. „Das Feuer wird euch verraten. Man sieht das Licht kilometerweit in der Dunkelheit.“ Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Gruppe, doch ihre Gesichter blieben gezeichnet von Erschöpfung und Angst. Die Stille, die darauf folgte, war schwerer als die Dunkelheit selbst.
Schimon blickte zu Emilie, seiner Großmutter. Sie saß zusammengesunken auf der schmalen, abgenutzten Bank, eingerahmt von Erika und Ruth, die sich schützend an sie lehnten. Ihr Gesicht war von den Strapazen der vergangenen Tage gezeichnet, ihre Haut fahl, die Wangen eingefallen. Doch am auffälligsten war ihre Nase – geschwollen, mit tiefen blauen und violetten Flecken übersät, die deutlichen Spuren einer brutalen Misshandlung. Die Schwellung ließ ihre Züge grotesk verzerrt wirken, und ihre Lippen zitterten leicht, als versuche sie, den Schmerz zu unterdrücken. Erika hielt ihre Hand fest umschlossen, als könnte sie dadurch ihre Erschöpfung lindern.
Schimon wusste aus den Erzählungen seines Vaters, dass Emilie erst einen Tag zuvor von einem russischen Soldaten mit dem Gewehrkolben brutal ins Gesicht geschlagen worden war. Der Schlag hatte ihre Nase gebrochen, sie zu Boden geworfen und ihre Sinne vernebelt. Doch trotz des Schmerzes hatte sie den Marsch in den Wald auf sich genommen, um ihre Familie nicht im Stich zu lassen. Ihre Entschlossenheit war ungebrochen.
Der Feldwebel verschränkte die Arme und musterte Lontke mit scharfem Blick. „Woher kommt ihr?“ fragte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Lontke räusperte sich, sein Blick huschte kurz zu den Männern am Ofen, bevor er antwortete: „Wir kommen aus Limburg. Eigentlich wohnten wir in Groß Döbern, aber die Russen haben uns verschleppt. In Limburg war es die Hölle. Die Soldaten drangsalierten uns so sehr, dass wir keine andere Wahl hatten, als in den Wald zu fliehen.“ Seine Stimme war rau und belegt, als würde ihn die Erinnerung erdrücken. „Ich bin Waldarbeiter, ich wusste von dieser Hütte. Also haben wir uns entschlossen, uns hierher zurückzuziehen – wenigstens für eine Weile.“
Der Feldwebel nickte langsam, sein Blick ruhte schwer auf Lontke. „Und was ist mit dieser Frau passiert?“ fragte er und deutete mit einem kurzen Nicken auf Emilie.
Lontke presste die Lippen aufeinander und ließ die Schultern sinken. „Einer von ihnen wollte Erika und Ruth mitnehmen… die Mädchen schrien und klammerten sich an ihre Mutter. Emilie hat sich ihnen in den Weg gestellt.“ Seine Finger ballten sich zu Fäusten, als er fortfuhr. „Das hat den Soldaten so wütend gemacht, dass er mit dem Gewehrkolben auf Emilie einschlug. Einfach so. Ohne zu zögern.“ Er holte tief Luft, seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut. „Sie fiel zu Boden, ihr Gesicht blutüberströmt. Aber sie hat nicht geschrien. Sie hat einfach nur ihre Töchter festgehalten.“
Der Feldwebel musterte den Raum mit misstrauischem Blick und ließ seinen Blick in eine dunkle Ecke der Hütte wandern. „Und wer ist diese Frau hier?“ fragte er scharf und trat einen Schritt näher. Erst jetzt bemerkte Schimon die Gestalt, die regungslos in der dunklen Ecke auf einer Bank saß.
Die Frau hatte ein schmales Gesicht, das von Erschöpfung gezeichnet war. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, ihre blassen Wangen wirkten eingefallen. Ein dicker Schal war eng um ihren Hals gewickelt, doch selbst dieser schien nicht genug Wärme zu spenden. Neben ihr, eng an sie geschmiegt, saß ein junges Mädchen, das ängstlich zu Boden blickte und ihre Hände nervös im Schoß vergrub.
„Das ist Anna, meine Frau,“ antwortete Lontke ruhig, aber mit einem Hauch von Anspannung in der Stimme. „Und neben ihr sitzt Valli, unsere Tochter. Ruth und Valli gehen gemeinsam in die Schule.“
Ein leises Zittern durchlief das Mädchen, als sie den Namen ihrer Freundin hörte, doch sie wagte es nicht, den Kopf zu heben. Der Feldwebel betrachtete die beiden einen Moment lang, dann nickte er knapp, bevor er sich wieder Lontke zuwandte.
Schimon beobachtete, wie sich einer der Soldaten, ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen, langsam vom Ofen abwandte. Seine Strohschuhe knirschten leise auf dem harten Holzboden, als er vorsichtig zur Tür schlurfte. Mit einem müden Blick wandte er sich an den Feldwebel und sagte mit heiserer Stimme: „Ich muss kurz raus.“
Der Feldwebel sah ihn an, als würde er abschätzen, ob der Mann es überhaupt noch schaffen würde, und nickte schließlich. „Alles klar, Josef. Beeil dich.“
Schimon trat instinktiv zur Seite, als der Soldat an ihm vorbeiging und in die eiskalte Nacht hinaustrat. Der Wind zerrte an seiner abgetragenen Uniform, und mit jedem Schritt versanken seine Füße tiefer im Schnee. Seine Bewegungen waren schleppend, beinahe taumelnd, als koste ihn jeder Schritt eine unermessliche Anstrengung. Sein Rücken war gebeugt, als würde er die Last einer unsichtbaren Bürde tragen.
Nach wenigen Metern hielt er inne, suchte mit seinen Augen die Umgebung ab und bewegte sich dann mühsam zu einem großen, kahlen Baum am Rande der Lichtung. Dort ließ er sich langsam auf die Knie sinken, seine Schultern zitterten unter der bitteren Kälte und der Erschöpfung.
Schimon trat vorsichtig näher, seine Atemwolken vermischten sich mit denen des Soldaten, der leise Worte murmelte. In der klirrenden Stille konnte er Bruchstücke des Gebets hören. „Herr… vergib mir… meine Zeit ist nah…“ Die Stimme des Soldaten zitterte, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Schimon erkannte, dass dieser Mann den nahenden Tod spürte, dass er wusste, ihre Lage war aussichtslos. Der Kampf, den er geführt hatte, war nicht nur gegen den Feind, sondern gegen das unaufhaltsame Schicksal, das sich unbarmherzig über ihn legte. Fortsetzung folgt…