Kalenderblatt

20.12.1932 – Ein Gesetz der Gnade, Bildungsdrang im Stadttheater in Brieg

Der Morgen des 20. Dezembers 1932 legte sich wie ein schweres, feuchtkaltes Tuch über die Dächer von Brieg an der Oder. Wenn ich mir heute vorstelle, wie mein Großvater Oswald Winkler in jenen frühen Stunden durch die Grovestraße schritt, sehe ich einen Mann vor mir, der die Welt mit ganz eigenen, von seinem tiefen Glauben geprägten Augen sah. Während der Frost leise an den Fensterscheiben der Stadt knabberte, passierte in Berlin etwas, das das ganze Land in Atem hielt: Der Reichstag verabschiedete das Gesetz über die Straffreiheit. Diese große Weihnachtsamnestie sollte das zerrissene Deutschland kurz vor dem Fest befrieden und tausende Gefangene zurück nach Hause bringen. Für meinen Großvater war dieser politische Akt weit mehr als nur ein juristischer Beschluss. Aus seiner Sicht und seinem persönlichen Verständnis des Evangeliums heraus betrachtete er solche Momente als ein Wirken der Gnade in einer ansonsten oft gnadenlosen Welt. In Brieg, wo das Zuchthaus als eines der größten Preußens ein düsteres Wahrzeichen der Region war, bedeutete dieser Tag ganz konkret, dass sich für viele Familien die Hoffnung auf eine gemeinsame Weihnacht erfüllte. Oswald sah in diesen sich öffnenden Gefängnistoren ein schwaches Abbild jener Freiheit, die er selbst in seinem Glauben gefunden hatte, während Reichskanzler Kurt von Schleicher verzweifelt versuchte, die politische Brandung der Weimarer Republik zu glätten.

Doch die besinnliche Stimmung täuschte kaum über die harte soziale Realität hinweg, die auch in Brieg an jeder Straßenecke spürbar war. Die Stadt, die für ihre Klavierfabrik (A. Schütz & Co.) und die große Zuckerfabrik (Zuckerfabrik Neugebauer & Co. G.m.b.H.) bekannt war, litt schwer unter der Wirtschaftskrise, und für die meisten Menschen war das tägliche Brot eine Sorge, die sie bis in den Schlaf verfolgte. Trotz dieser Not gab es an diesem Dienstagabend einen Ort, der hell erleuchtet war und den Geist über das Elend erhob: Das Brieger Stadttheater öffnete seine Türen für eine öffentliche Versammlung. Dort trafen Bildungshunger und Existenzangst unmittelbar aufeinander. Während man in einem Saal der stolzen Geschichte des schlesischen Bildungswesens und der Tradition des Gymnasiums Illustre lauschte, wurde im nächsten Moment hitzig über Versicherungsbeiträge und soziale Absicherung debattiert. Mein Großvater, der zu dieser Zeit mit seinem Waldix Vertrieb als Unternehmer in der Stadt Fuß zu fassen suchte, nahm diese Spannungen sicher sehr bewusst wahr. Er war ein Mann des praktischen Lebens, der wusste, dass der Glaube sich im Alltag bewähren muss. Für ihn war es wichtig, nicht nur von der Hoffnung zu predigen, sondern auch für seine wachsende Familie eine sichere Burg zu bauen, auch wenn die Welt um ihn herum immer unsicherer wurde.

In der Stille der Grovestraße, weit abseits der politischen Debatten und der Theaterlichter, schlug das Herz unserer Familiengeschichte an diesem Tag ganz besonders laut. Dort in der Wohnung brannte sicher ein kleines Licht an der Wiege des neugeborenen Johannes, den alle nur Hans nannten und der erst vor wenigen Monaten, im Juli 1932, zur Welt gekommen war. Für meine Großmutter Emilie – unser „Mielchen“ – und Oswald war dieser kleine Junge, ihr fünftes Kind, ein lebendiger Beweis für Gottes Bewahrung in einer Zeit des Umbruchs. Mein Großvater trug zu dieser Zeit jedoch auch eine schwere Last mit sich herum: die Erinnerung an ein „traumhaftes Gesicht“, das er Jahre zuvor hatte. Darin hatte ihn sein Herr vor Männern in braunen Uniformen gewarnt, die kein Gutes im Schilde führten. Wenn er an diesem Tag durch die Brieger Gassen ging und die SA-Männer sah, die bereits versuchten, die Ordnung der Stadt nach ihren Vorstellungen zu formen, fühlte er sich in seinem Glauben und seiner Warnung bestätigt. Er wusste aus seiner ganz persönlichen Überzeugung heraus, dass er diesen Männern niemals folgen durfte. Und so wurde die Grovestraße an diesem 20. Dezember zu einem Ort, an dem der tiefe Glaube eines Vaters und die unschuldige Hoffnung eines Säuglings eine kleine Insel des Friedens bildeten. Wenn Du heute an Deine eigene Familiengeschichte denkst, gibt es dort auch diese Momente, in denen ein festes Vertrauen oder ein kleiner Lichtblick die großen Schatten der Geschichte für einen Augenblick vertreiben konnte? Erzähl mir doch davon in den Kommentaren, denn es sind genau diese persönlichen Wege, die uns auch in stürmischen Zeiten Halt geben können.

Euer Schimon.


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Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

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