
Verletzungen aus der Kindheit – Was wir mit einem Filzstift nicht einfach übermalen können
Neulich bin ich zufällig dem Maler begegnet, der gerade die Wohnung renoviert, in der ich meine ganze Kindheit verbracht habe. Das Haus meiner Eltern ist schon seit einiger Zeit verkauft, die Wohnung ist längst vermietet. Aber als ich hörte, dass dort gerade renoviert wird, war ich neugierig. Und so kam es zu einem kleinen Gespräch, das für mich zu einer inneren Reise wurde.
Ich erzählte ihm, wie mein Bruder und ich früher im Flur herumgetobt haben. Wir nannten es „bubbeln“ – Quatsch machen, uns gegenseitig ärgern, ein bisschen raufen, wie Jungs eben sind. Der Flur war voller Einbauschränke – große, helle Flächen. Und eines Tages ist es passiert: Ich kam mit einem Gegenstand an den Schrank. Eine Macke im Holz. Nicht groß, aber sichtbar. Und sofort die Angst: Der Vater wird schimpfen. Was machen wir jetzt?
Meine kindliche Lösung damals: „Wir nehmen einen Filzstift und malen das einfach ein bisschen an.“ Natürlich war das keine echte Lösung. Aber aus dieser Szene wurde ein geflügeltes Wort in unserer Familie. Immer wenn später etwas kaputt ging oder danebenlief, hieß es: „Komm, wir malen’s mit dem Filzstift an.“
Und als ich jetzt mit dem Maler sprach, erinnerte ich mich plötzlich an all das. Und mir wurde klar: Diese kleine Szene ist ein perfektes Bild für den Umgang mit unseren inneren Verletzungen.
Macken, die bleiben
Jeder von uns trägt Macken mit sich. Kleine Kratzer. Tiefe Kerben. Manchmal sind sie kaum sichtbar, manchmal haben sie sich tief in unser Inneres gegraben. Sie stammen aus der Kindheit, aus Beziehungen, aus Momenten, in denen wir nicht gesehen, nicht gehört, nicht gehalten wurden.
Und oft machen wir genau das, was ich damals als Kind getan habe: Wir versuchen, sie zu überdecken. Mit einem Lächeln. Mit Anpassung. Mit Leistung. Mit Härte. Wir tun so, als wäre nichts. Als wäre alles heil.
Aber das Problem mit inneren Macken ist: Sie verschwinden nicht einfach. Schon gar nicht, wenn wir sie mit einem inneren Filzstift „anmalen“. Sie bleiben. Und wenn wir nicht achtsam sind, werden sie zu Mauern.
Wie Wunden zu Mauern werden
Verletzungen, die wir nicht anschauen, wachsen in uns. Sie beeinflussen, wie wir fühlen, wie wir handeln, wie wir Beziehungen leben. Sie machen uns vorsichtig, misstrauisch, manchmal sogar hart. Denn wir wollen nicht noch einmal verletzt werden. Wir wollen vermeiden, dass es wieder weh tut.
Also ziehen wir Mauern hoch. Unsichtbare. Aber spürbare. Und irgendwann stehen wir da – umgeben von Schutz, aber auch von Einsamkeit. Weil niemand mehr an uns herankommt.
Diese Mauern entstehen oft still. Durch Schweigen. Durch Rückzug. Durch den Satz: „Ist schon gut.“ Auch wenn es nicht gut ist.
Und oft wissen wir selbst gar nicht mehr genau, woher diese Mauern kommen. Sie sind einfach da. Aus alten Wunden. Aus ungelösten Geschichten. Aus Sätzen, die nie ausgesprochen wurden.
Vom Übermalen zum Heilen
Der Unterschied zwischen einer Wunde und einer Narbe ist entscheidend. Eine Wunde ist offen, schmerzhaft, empfindlich. Eine Narbe hingegen ist geheilt. Sie erinnert uns an etwas, das wir überlebt haben. Etwas, das uns geprägt hat. Aber sie tut nicht mehr weh.
Heilung bedeutet nicht, dass alles wieder wird wie früher. Es bedeutet auch nicht, dass wir vergessen. Es bedeutet, dass wir hinschauen. Dass wir anerkennen: „Ja, da ist etwas passiert.“ Und dass wir bereit sind, damit zu leben – aber eben nicht mehr darunter.
Heilung beginnt mit Ehrlichkeit. Und mit dem Mut, den inneren Filzstift wegzulegen.
Eine Einladung
Vielleicht hast Du in Deinem Leben auch so einen Schrank mit einer Macke. Vielleicht sogar mehrere. Vielleicht hast Du gelernt, drüber zu lachen. Vielleicht hast Du gelernt, es zu ignorieren. Vielleicht hast Du es sogar geschafft, anderen zu erzählen, es sei längst vorbei.
Aber vielleicht spürst Du manchmal, dass es eben doch noch da ist. Dass da eine Stelle in Dir ist, die empfindlich bleibt. Eine Verletzung, die immer noch offen ist. Dann möchte ich Dich heute ermutigen: Schau hin. Nicht um Schuld zu verteilen. Nicht um in der Vergangenheit zu wühlen. Sondern um ehrlich zu sein. Und um frei zu werden.
Denn Mauern trennen. Aber Narben verbinden – mit dem, was war, und mit dem, was möglich ist.
Den passenden Podcast zur heutigen Folge findest Du auf YouTube und Spotify: „Verletzungen – Wie alte Wunden neue Mauern bauen“. Wenn Dich das Thema berührt hat, hör gern rein. Und teil den Artikel mit Menschen, denen er vielleicht genau heute gut tut.

