Unsere Welt von morgen

156 Morde, die wir verhindern könnten: Warum das Schweigen über Häusliche Gewalt tödlich ist

Heute Morgen saß ich mit meiner Tasse Kaffee am Tisch, die Hände an der warmen Keramik, und eigentlich wollte ich den Tag ganz ruhig beginnen. Ich wollte nur kurz die Nachrichten hören, bevor der Alltag losgeht. Doch dann kam diese eine Zahl, und sie hat mich getroffen wie ein Schlag in die Magengrube, der mir für einen Moment die Luft nahm. 132 Frauen und 24 Männer. Das sind die Menschen, die im Jahr 2024 in Deutschland durch Partnerschaftsgewalt getötet wurden. Sie sind nicht einfach gestorben. Sie sind nicht „ums Leben gekommen“, wie es oft so verharmlosend heißt. Sie wurden ermordet – von dem Menschen, der ihnen einmal am nächsten stand, dem sie vertraut haben, den sie vielleicht geliebt haben. Ich musste erst einmal schlucken und diese Meldung nochmals Googeln um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört habe. Aus diesem schieren Entsetzen heraus habe ich dann auch sofort das kurze Video auf Instagram aufgenommen, weil ich dieses Gefühl nicht einfach zur Seite schieben konnte. Diese Zahl hat etwas in mir in Bewegung gesetzt, eine Mischung aus Trauer und Wut, und ich merke, dass ich sofort darüber schreiben muss. Damit diese Nachricht nicht einfach an uns vorbeirauscht wie so viele andere, die wir täglich hören, aber kaum noch wirklich fühlen.

Wenn wir „132 Frauen und 24 Männer“ sagen, klingt das vielleicht wenig, wie eine trockene Statistik, die man zur Kenntnis nimmt und dann abheftet. Aber wenn wir uns bewusst machen, dass hier 156 Menschen, die gestern noch gelebt, gelacht, gehofft und geatmet haben, heute nicht mehr da sind, bekommt das Grauen ein Gesicht. Und wenn wir alle Zahlen häuslicher Gewalt des letzten Jahres zusammennehmen, sprechen wir sogar von 286 getöteten Menschen – Frauen, Männer, Kinder, Senioren, Angehörige. Das ist eine ganze Schulklasse, eine komplette Nachbarschaft, ein ganzer Bus, nein mehrere, voller Leben, die einfach ausgelöscht wurden. Ich habe mich gefragt: Wie kann das sein? Und vor allem: Warum geschieht das in unserer heutigen Zeit, der Aufklärung und voller Hilfsangeboten – und immer häufiger? Beim Lesen des Bundeslagebildes wurde mir schmerzlich klar, wie tief dieses Thema in unserer Gesellschaft verwurzelt ist und warum es eben nicht reicht, nur Betroffenheit zu heucheln. Wir müssen über uns reden: über Politik, über Strukturen und darüber, was wir ganz konkret ändern müssen, wenn diese Zahlen nicht nur Papier bleiben sollen.

Wenn die eigenen vier Wände zur tödlichen Falle werden

Das Bundeskriminalamt schreibt einen Satz, der mich seit dem Lesen nicht mehr loslässt und der den Kern des Problems trifft: „Häusliche Gewalt bleibt oft hinter verschlossenen Türen verborgen.“ Gewalt passiert nicht irgendwo draußen in dunklen Gassen, wo wir sie vermuten würden und wo wir vielleicht instinktiv vorsichtig sind. Sie geschieht zu fast 70 Prozent im eigenen Zuhause. In Wohnzimmern, Schlafzimmern und Küchen, in Wohnungen, die von außen vollkommen normal und friedlich wirken. Und genau das ist das Tückische: Was hinter einer Tür passiert, sehen wir oft erst dann, wenn es eskaliert, wenn es zu spät ist. Besonders schockiert hat mich die Tatsache, dass fast jeder zweite Täter der Polizei bereits bekannt ist – bei Männern sind es sogar über 54 Prozent. Wir reden hier also nicht von einem plötzlichen, unvorhersehbaren Ausraster aus dem Nichts. Wir reden von Mustern, von einer Spirale aus Kontrolle, Eifersucht, Abhängigkeit und Druck, die sich langsam dreht, bis sie explodiert.

Doch wir müssen uns auch fragen, warum der Boden für solche Taten bereitet ist. Häusliche Gewalt ist kein rein privates Drama, sie ist ein Spiegel gesellschaftlicher Missstände, die wir gerne ignorieren. Wenn Familien in zwei Zimmern leben müssen, weil Wohnungen unbezahlbar sind, wenn finanzielle Unsicherheit an den Nerven zerrt oder psychische Belastungen ohne Therapieplatz bleiben, dann entsteht ein Nährboden, der Gewalt zwar nicht entschuldigt, aber begünstigt. Es macht mich wütend, dass wir als Gesellschaft oft immer noch wegschauen und uns hinter dem fatalen Satz verstecken: „Da mischt man sich nicht ein.“ Genau diese Haltung tötet Menschen. Wenn wir Pflegekräfte am Limit sehen, Alleinerziehende, die kaum noch atmen können, und Menschen, die keine Perspektive mehr haben, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn der Druck sich gewaltsam entlädt.

Wir bestrafen die Tat, aber wir verhindern den nächsten Schlag nicht

Was mich am meisten umtreibt, ist die Erkenntnis, dass unser System oft erst reagiert, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wir bestrafen Menschen, ohne ihnen Veränderung beizubringen, und wundern uns dann über Wiederholungstäter. Eine Geldstrafe verändert keine toxischen Muster, und eine Bewährungsstrafe heilt keine Aggression, keine krankhafte Eifersucht und keine Sucht. Wir brauchen dringend verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings und Therapieauflagen, anstatt nur die Symptome zu verwalten. Strafen verhindern keine Morde, echte Verhaltensänderung hingegen schon. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Frauenhäuser überfüllt sind und viele Betroffene beim Täter bleiben, schlicht weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Niemand flieht, wenn er danach auf der Straße steht.

Wir müssen endlich den Grundsatz ernst nehmen: Der Täter muss gehen, nicht das Opfer. Und wir müssen jene schützen, die am verletzlichsten sind und keine Stimme haben. Frauen mit Behinderungen erleben deutlich häufiger Gewalt und finden kaum barrierefreie Schutzräume. Und dann sind da noch die Kinder, die leisen Opfer, die in suchtbelasteten oder gewalttätigen Familien aufwachsen. Sie erleben Gewalt oft hautnah mit, und diese Narben tragen sie ein Leben lang auf ihrer Seele. Ich spüre, dass wir an einem Punkt stehen, an dem diese Diskussion nicht länger verschoben werden darf. Wenn ich all diese Zahlen und Zusammenhänge betrachte, bleibt am Ende nur eine Frage: Wie viele Tote sind wir bereit hinzunehmen? 156 Menschenleben sind keine bloße Zahl, sie sind eine Anklage an uns alle. Ich wünsche mir, dass wir anfangen, einander wirklich zu sehen. Nicht nur die Opfer, sondern auch die, die gefährdet sind, die leise rufen und die niemand hört. Wir müssen das Handzeichen gegen Gewalt kennen, wir müssen die Polizei rufen, wenn wir Schreie hören, und wir müssen uns einmischen. Weil Schweigen tötet.

Euer Schimon


Wie geht es euch, wenn ihr diese Zahlen lest und euch bewusst macht, dass diese Gewalt oft in der Nachbarschaft stattfindet? Fühlt ihr euch auch so ohnmächtig oder habt ihr Ideen, wie wir im Kleinen achtsamer miteinander umgehen können? Ich freue mich auf eure ehrlichen Gedanken in den Kommentaren.

Peter Winkler ist Aquaponiker, Coach und Blogger. Sein theologisches Studium war die Basis für eine langjährige Tätigkeit in der sozialen Arbeit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Aquaponik. Durch seine Expertise entstanden mehrere Produktionsanlagen im In.- und Ausland. Mit dem Blog "Schimons Welt" möchte er die Themen teilen, die ihn bewegen und damit einen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert